Langzeitstudie zu beginnender Artbildung

Die berühmten Darwinfinken sind ein Lehrbuchbeispiel für die Aufspaltung von Arten. Forscher konnten nun in einer Langzeitstudie einen Teilabschnitt eines möglichen Artbildungsvorgangs dokumentieren. Es zeigte sich, dass dabei keine innovativen Veränderungen benötigt werden, sondern dass die Veränderungen auf dem Ausschöpfen vorhandener Variabilität beruhen.

Nach Charles Darwin sind sie benannt und gelten als Lehrbuchbeispiel für einen grundlegenden evolutionären Prozess, die Aufspaltung der Arten. Gemeint sind die Darwinfinken auf den Galápagos-Inseln. Nach gängiger Vorstellung gehen diese Vögel (es sind in Wirklichkeit Ammern, die teilweise finkenartige Schnäbel haben) auf eine einzige Gründerart zurück, aus der sich 13 Arten aufgespalten haben sollen. Für diese Vorstellung spricht besonders ein biogeographisches Argument: Die Darwinfinken gibt es nur auf dieser Inselgruppe. Man spricht von Entstehungsendemismus. (Arten werden endemisch genannt, wenn sie nur ein räumlich sehr begrenztes Verbreitungsgebiet haben.)

Abb. 1: Der Kaktus-Grundfink Geospiza scanadens. (Picasa Web Albums, Creative Commons Lizenz)

Der Vorgang der Artbildung bei den Darwinfinken (also ihre Aufspaltung in die heutigen Arten) ist hypothetisch. Peter und Rosemary Grant gehen den Veränderungen der Darwinfinken durch Langzeitbeobachtungen seit fast 40 Jahren auf die Spur. So konnten sie vor einigen Jahren eine Veränderung der durchschnittlichen Schnabelgröße nach mehreren Jahren extremer Trockenheit nachweisen (Grant & Grant 1993; 2006). Nun gelang es ihnen kürzlich, auch einen Teilabschnitt eines möglichen Artbildungsvorgangs dokumentieren.

In einem Ende 2009 erschienenen Artikel berichtet das Forscherehepaar über die Entstehung und Etablierung einer fortpflanzungsmäßig isolierten Population von Darwinfinken auf der kleinen Galápagos-Insel Daphne Major während der sogenannten zweiten Kontaktphase (Grant & Grant 2009). Damit ist die Zeit gemeint, in der ehemals geographisch getrennte Populationen wieder geographisch überlappen. Diesen Vorgang konnten sie durch Markierungen der Vögel verfolgen.

Die Langzeit-Freilandbeobachtungen begannen im Jahr 1981, als ein besonderer Mittlerer Grundfink (Geospiza fortis, Abb. z. B. www.olsvik.info/Images13/Medium-ground-finch.jpg) die Insel Daphne Major erreichte (Individuum Nr. 5110). Dieser Vogel war für seine Art ungewöhnlich groß und schwer (mit knapp 30 Gramm etwa 5 g schwerer als andere G. fortis-Individuen auf Daphne Major und an der oberen Grenze der Größenvariation von G. fortis auf der Nachbarinsel Santa Cruz, von der er sehr wahrscheinlich herkam, wie genetische Untersuchungen zeigten). Außerdem hatte dieser Einwanderer eine sehr große Schnabelbreite und einen ungewöhnlichen Gesang; und er trug einige Allele des Kaktus-Grundfinken (Geospiza scandens, Abb. 1), was vermutlich von einer früheren Kreuzung herrührt; die Forscher vermuten, dass er ein Hybride (Mischling) war.

Peter und Rosemary Grant verfolgten das weitere Schicksal dieses Individuums und seiner Nachkommen sieben Generationen lang über einen Zeitraum von 28 Jahren. Der Einwanderer verpaarte sich zunächst mit einem Weibchen von G. fortis, das ebenfalls einige Gene von G. scandens trug. Nach einer schweren Dürre wurde die daraus entstandene Nachkommenpopulation in der vierten Generation auf ein einziges Geschwisterpaar dezimiert. Dieses verpaarte sich, und seine Nachkommen blieben fortpflanzungsmäßig isoliert; d. h. sie pflanzten sich nur noch untereinander fort (Endogamie) und nicht mehr mit anderen auf der Insel lebenden Individuen von G. fortis. Ihr Gesang war weiterhin ungewöhnlich, ebenso ihre Morphologie. Die Variation der Schnabelbreite der auf den Einwanderer zurückgehenden Linie überlappte kaum noch mit der Bandbreite der auf Daphne Major heimischen G. fortis-Vögel (Abb. 2), so dass dieses Merkmal heute fast schon einen diagnostisch verwertbaren Unterschied darstellt (Grant & Grant 2009, 20143). Beispielsweise hatten 20 der 24 ausgemessenen Mitglieder der endogamen Gruppe breitere Schnäbel als alle anderen 462 Vögel von G. fortis auf der Insel seit dem Jahr 2002.

Mögliche Schlussfolgerungen
Abb. 2: Morphologischer Unterschied in der Schnabelbreite zwischen der eingewanderten Linie von Geospiza fortis (unten) und anderen Vögeln dieser Art auf Daphne Major in den Jahren 2005-2009. Die Schnabelgröße des ursprünglichen Einwanderers (Individuum Nr. 5110) ist mit einem Stern gekennzeichnet. Nach GRANT & GRANT (2009).

Die Ankunft des ungewöhnlich großen Individuums 5110 von G. fortis auf Daphne Major kann als Beispiel eines sekundären Kontakts im Laufe einer Artbildung (s. o.) interpretiert werden. Die Unterschiede des Neuankömmlings im Körperbau und im Gesang im Vergleich zu den ortsansässigen Individuen dürften die Fortpflanzungsisolation bewirkt haben, die spätestens seit der Dezimierung auf das erwähnte Geschwisterpaar vollständig verwirklicht war (präzygotische Isolation). Aufgrund der über mindestens drei Generationen währenden genetischen Isolation ist es berechtigt, die auf den Einwanderer zurückgehende Population als neue biologische Art (Biospezies) einzustufen. Allerdings sprechen Grant & Grant (2009, 20146) vorsichtig nur von einer „beginnenden Artbildung“ („incipient speciation“; ein Begriff, der auf Darwin zurückgeht). Das weitere Schicksal dieser Gruppe sei ungewiss.

Während Charles Darwin glaubte, dass Artbildung zu langsam vor sich geht, um beobachtbar zu sein, zeigen die Beobachtungen von Grant & Grant, dass in sehr kleinen Populationen wenige Generationen für wesentliche Schritte genügen können. Dass eine neue Art entstehen konnte oder mindestens eine „beginnende Art“, hängt in diesem Fall mit der speziellen Ökologie des Einwanderers (Nr. 5110) zusammen: Sein ungewöhnlicher Körperbau und sein ungewöhnlicher Gesang ermöglichten eine Isolation von den ortsansässigen Vögeln. Die Artaufspaltung erfolgte in diesem Stadium ohne weitere räumliche Trennung.

Die Artbildung erforderte keine neuen Mutationen oder nennenswerte genetische Änderungen der beteiligen Populationen (Grant & Grant 2009, 20146). Dafür genügten zwei Extremereignisse in der Umwelt (Einwanderung eines ungewöhnlichen Individuums und extreme Trockenheit, die zur Dezimierung führte), die zur einer Verringerung des Genpools führten: Artbildung durch Spezialisierung im Rahmen der vorhandenen Bandbreite an Merkmalsausprägungen.

Die beeindruckende Langzeitstudie von Grant & Grant (2009) ermöglicht einen bislang kaum möglichen Blick auf Vorgänge in der Natur, indem sie einige Stadien der Artbildung direkt dokumentieren. Sie zeigt aber auch, dass Vorgänge wie die auf Daphne Major keine innovativen Veränderungen benötigen, sondern auf dem Ausschöpfen vorhandener Variabilität beruhen.

Reinhard Junker

Literatur
Grant BR & Grant PR (1993)
Evolution of Darwin’s finches caused by a rare climatic event. Proc. R. Soc. Lond 251B, 111-117.
Grant PR & Grant BR (2006)
Evolution of Character Displacement in Darwin’s Finches. Science 313, 224-226.
Grant PR & Grant BR (2009)
The secondary contact phase of allopatric speciation in Darwin’s finches. Proc. Natl. Acad. Sci. 106, 20141-20148.

Studiengemeinschaft WORT und WISSEN e.V.
Letzte Änderung: 23.01.2014
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