6.3.8 „Gen-tinkering“

Kann in komplexe biologische Systeme neue Information eingeflickt werden?

Zusammenfassung: Die Proteine der Lebewesen bestehen häufig aus denselben Abfolgen von Aminosäuren, Motive oder Domänen genannt. Warum diese Domänen über das ganze Organismenreich hinweg immer wieder in ähnlicher oder gar gleicher Form vorkommen, verlangt nach einer Erklärung. „Gene-tinkering“ beschreibt den vermuteten Prozeß, daß während der Evolution neue Proteine entstanden, indem bestehende Domänen aneinander „geflickt“ wurden. Es ist zwar fraglich, ob dies mechanistisch durch Evolutionsprozesse erklärt werden kann, jedoch sind die zu untersuchenden Systeme komplex und entziehen sich zur Zeit einer Analyse. Es gibt bisher nur wenige direkte Beobachtungen von evolutivem gene-tinkering. Diese erscheinen zudem gegenüber den Vorgängen, die evolutionstheoretisch in der Vergangenheit zu postulieren wären, vergleichsweise einfach. Schließlich bleibt die Frage, woher Domänen und funktionelle minimale Anfangszustände kommen, weiter offen.

Inhalt

Gen-tinkering

Der Begriff „tinkering“ wurde 1977 von Francois JACOB vermutlich als erstem benutzt. Er überschrieb in der Zeitschrift Science (196:1161-1166) einen mittlerweile klassischen Artikel mit „Evolution and tinkering“, was man wohl am ehesten mit „Evolution und Flickschusterei“ übersetzen könnte. Der „tinker“ ist ein Kesselflicker, ein lautmalerisches Wort, das die Hammerschläge des Handwerkers beim Flicken und Nieten Einschlagen anklingen läßt. Der Begriff „gene tinkering“ wird in der Literatur relativ leger gebraucht und es gibt auch keine festgelegte Definition. Im Großen und Ganzen versteht man darunter das „Einflicken“ von Genen oder Genabschnitten in neue Funktionszusammenhänge im Laufe der Evolution. Dieser Artikel möchte ein Einführung in die Thematik geben.

Ein Baukastensystem
Die gesamte lebende Welt
läßt sich mit einer Art riesigem
Baukasten vergleichen.

JACOB schreibt in seinem Buch „Die Maus, die Fliege und der Mensch“ (dtv 2000; Original 1997): „Anders als man lange geglaubt hatte, beruht die biochemische Evolution erst an zweiter Stelle auf Mutationen. Sie geht vor allem auf die Verdopplung von DNA-Segmenten und ihre Neuzusammenstellung zurück. In dieser Evolution gibt es richtige Fixpunkte, Inseln, die aus den spezifischen Erkennungsstellen bestehen. Um die sie codierenden DNA-Segmente tauschen sich mehr oder weniger frei, fast wie in einer Art Ballett, andere DNA-Fragmente aus. Daher finden sich die Grundstrukturen in allen Organismen wieder, und jedesmal möglicherweise in anderen Zusammenhängen. Die gesamte lebende Welt läßt sich also mit einer Art riesigem Baukasten vergleichen. Dieselben Stücke können auf verschiedene Art und Weise auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden, so daß unterschiedliche Formen entstehen. Aber die Grundlage bilden immer die gleichen Elemente“ (S. 109). Diese Aussage geht auf die Beobachtung zurück, daß man – wie JACOB selbst schreibt – in Lebewesen immer wieder gleiche oder ähnlich aufgebaute Proteine (oder gleiche oder ähnlich aufgebaute Proteinabschnitte) findet. Diesen Befund vergleicht er zurecht mit Bausteinen aus einem Set, wie z.B. die bekannten Lego-Steine. Sie lassen sich zu immer neuen Gebilden zusammensetzen, sei ein ein kleines Spielzeughaus oder eine „Mondrakete“.

Abb. 1: Ein bakterielles CSP-Protein in schematischer Darstellung. Die fünf b-Faltblätter (Pfeile) bilden ein kleines Faß. Die DNA oder RNA wird aber an der Außenseite dieses Proteins gebunden. (Molecular Modeling DataBase #1677; www.ncbi.nlm.nih.gov/Structure/)

Der Unterschied zwischen zwei Organismen ist also nicht so sehr die Anzahl unterschiedlicher Gene, sondern vielmehr der andere Zusammenbau gleicher oder ähnlicher Gene oder Genabschnitte der Organismen. Dabei gibt es verschiedene, manchmal schon etwas skurril anmutende Fälle1:

  1. Gleiche oder ähnliche Genabschnitte sind zwar im selben Organismus, aber in (z.T. völlig) anderen Funktionszusammenhängen u.U. mit anderen Genabschnitten zusammengespannt.
  2. Gleiche oder ähnliche Gene sind in verschiedenen Organismen im selben Funktionszusammenhang zu finden, dabei sind die Organismen laut Evolutionslehre (2.a) relativ nah verwandt (z.B. Wirbeltiere) oder (2.b) nur entfernt verwandt (z.B. Fliege / Maus).
  3. Gleiche oder ähnliche Genabschnitte sind z.T. in völlig unterschiedlichen Funktionszusammenhängen in sehr verschiedenen Organismen zu finden.
  4. Die Funktionszusammenhänge sind prinzipiell gleich, jedoch (4.a) einzelne Proteine sind völlig verschieden oder (4.b) derselbe Funktionszusammenhang wird mit komplett anderen Proteinen realisiert. Ein letzter Fall ist
  5. der Funktionszusammenhang ist derselbe, die Proteine sind gleich oder ähnlich, aber einzelne Proteine haben in verschiedenen Organismen ihren Platz mit anderen getauscht, so als würde im Fußball der Stürmer heute mal in der Abwehr spielen und umgekehrt.

Mit dem Begriff „gene tinkering“ werden diese Phänomene einerseits beschrieben, gleichzeitig impliziert er aber auch eine Erklärung: durch zufällige Evolutionsprozesse seien Domänen wild zusammengewürfelt worden. „Domänen“ oder „Motive“ sind dabei – unabhängig von ihrem Vorkommen oder ihrer Funktion – häufig wiederkehrende, gleiche oder ähnliche Abschnitte. Im einfachsten Fall besteht das gesamte Protein aus nur einem Motiv, jedoch gibt es in der Anzahl der Domänen (fast) keine Grenzen: Einzelne Proteine können aus mehrmals derselben Domäne hintereinander bestehen oder – der häufigste Fall – ein Protein besteht aus einigen unterschiedlichen Domänen. Proteine mit gleichen Domänen werden zur selben Proteinfamilie gerechnet, wobei es natürlich Überschneidungen geben kann. Um dem Ganzen „mehr Fleisch“ zu geben, betrachten wir im Folgenden aus der Unzahl der Möglichkeiten drei Beispiele, wo „evolutionäres Tinkering“ vermutet wird.

CSP-Domäne
Abb. 2: Beispiele von Proteinen, die die CSP-Domäne (schwarz) enthalten. Die alleinige CSP-Domäne kommt in Bakterien als Kälteschutzprotein vor, die CSP-Domäne zusammen mit anderen Domänen dagegen in Mehrzellern. Die Y-box, Lin28 und die Glycin-reichen Proteine sind zum großen Teil Regulatoren für andere Gene. Die Funktion des UNR-Proteins ist noch nicht genau bekannt, vermutlich ebenfalls ein Regulator. (Nach GRAUMANN & MARAHIEL 1998)

Proteine, die die CSP-Domäne enthalten, bilden eine der größten bekannten Superfamilien an Proteinen überhaupt. Entdeckt wurde diese Domäne zuerst in Bakterien. Setzt man Bakterien einem Kälteschock aus, so produzieren sie große Mengen eines kleinen Proteins, welches „cold shock protein“ oder kurz CSP genannt wird. Dieses CSP besteht aus ca. 70 Aminosäuren (selbst Bausteine der Proteine), und die Aminosäurekette faltet sich in einer besonderen Weise, die ungefähr wie ein Faß mit fünf Dauben aussieht (Abb. 1). Was ist nun die Funktion des bakteriellen CSPs? Die „CSP-Fässer“ haben auf einer Seite besonders viele positive Ladungen. Dadurch können sie sich an Nukleinsäuren (insbesondere an RNA), deren Rückgrat aus Zucker und Phosphor negativ geladen ist, anlagern. Diese Anlagerung schützt nun die Nukleinsäuren vor der Kälte, Handschuhen vergleichbar, die im Winter unsere Finger vor Kälte schützen (SCHERER & NEUHAUS 2002). Erstaunlicherweise fand man nun dieses CSP-Motiv nicht nur in Bakterien, sondern auch in (fast) allen anderen Lebewesen. Auch dort bindet die CSP-Domäne an Nukleinsäuren, an DNA oder an RNA. Doch sie schützt dort nicht gegen Kälte, sondern reguliert durch ihre Anlagerung (häufig) andere Gene. Außerhalb von Bakterien tritt die CSP-Domäne nur mit anderen Motiven „zusammengeflickt“ auf. In einem Fall besteht das „neue“ Protein aus fünf CSP-Motiven hintereinander, die Funktion dieses Proteins (UNR genannt) ist aber leider unbekannt (Abb. 2). Bei der CSP-Domäne handelt es sich um ein Beispiel, bei dem dasselbe Motiv in sehr verschiedenen Funktionszusammenhängen in den unterschiedlichsten Organismen vorkommt. Demzufolge wird spekuliert, „daß am Beginn der Evolution von Einzellern vor 3,5 Milliarden Jahren ein Vorfahr des CSP-Proteins vorhanden gewesen sein könnte“ (übersetzt nach GRAUMANN & MARAHIEL 1998). Dieses „Ur-CSP“ wurde dann, so die Annahme weiter, auf Mehrzeller und Bakterien, nicht aber Archaea vererbt. Im Laufe der Evolutionsgeschichte wurde diese nukleinsäure-bindende Domäne immer wieder in neue Funktionszusammenhänge gestellt, ihre Kälteschutzfunktion wurde durch Mutationen in eine Gensteuerungsfunktion abgewandelt.

G-Protein gekoppelte Rezeptoren (GPG-Rezeptoren)

Diese interessante Proteinfamilie ist nun ein Beispiel für mehrere unterschiedliche Möglichkeiten, wie gene-tinkering stattgefunden haben könnte. GPG-Rezeptoren dienen – wie der Name unschwer erkennen läßt – der Wahrnehmung von etwas. Sie erkennen eine erstaunliche Bandbreite an verschiedenen Aktivatoren, also Einflüssen die eine Wahrnehmung auslösen. Bei dem Aktivator kann es sich um „körperloses“ Licht handeln, um kleine Teilchen, wie Calcium-Ionen, um kleinere Moleküle wie Aminosäuren oder Hormone oder um größere Moleküle wie ganze Proteine. Die Bandbreite ist erstaunlich und in einem Wirbeltier-Genom sind etwa 1000-2000 verschiedene solcher Rezeptoren kodiert. Von diesen ist etwa die Hälfte allein der Geruchswahrnehmung zugeordnet. Der Aufbau dieser Rezeptoren folgt einem immer wiederkehrenden Grundbauplan (Abb. 3). Teile des Proteins bilden sieben Spiralen. Mit diesen steckt der Rezeptor in der Zellmembran. Die Bindung des Aktivators erfolgt auf der Außenseite der Zellmembran. Der aktivierte Rezeptor überträgt nun (in den allermeisten Fällen) ein Phosphor-Atom auf das zwischengeschaltete G-Protein, daher der Name der Rezeptoren. Genau genommen besteht das G-Protein aus drei einzelnen Untereinheiten. Der Einfachheit halber spricht man aber von dem G-Protein. Nach besagter Weitergabe des Phosphor-Atoms auf das G-Protein stößt der Rezeptor den Aktivator wieder ab, um für eine erneute Wahrnehmung bereit zu sein. Das G-Protein wird durch das übertragene Phosphor-Atom selbst aktiviert und es schaltet seinerseits, manchmal wiederum durch Weitergabe des Phosphor-Atoms, nachfolgend Enzyme, Ionenkanäle oder Gene ein oder aus. Es kann sich beispielsweise um die Generierung eines Nervenimpulses handeln, nachdem ein bestimmter Geruchsstoff wahrgenommen wurde. Interessant ist nun an diesen GPG-Rezeptoren, daß sie in vielen – wenn nicht allen – kernhaltigen Organismen vorkommen: Pflanzen, Hefen, Schleimpilze, Tiere, Protozoen, sie alle besitzen diese Bauart von Rezeptoren. Auch unser Sehprozeß wird durch GPG-Rezeptoren vermittelt. Das Licht wird dabei nicht direkt vom Rezeptor aufgenommen, sondern der Rezeptor (Opsin) bindet im deaktivierten Zustand ein lichtempfindliches Molekül (Retinal) und wird dann als Rhodopsin bezeichnet. Wird dieses lichtempfindliche Molekül vom Licht getroffen, so „verbiegt“ es sich2. „Verbogenes“ Retinal kann nicht mehr vom Rezeptor gebunden werden, es löst sich ab und das Opsin wird dadurch aktiviert. Es gibt sein Signal über die oben besprochene Kette weiter, bis letztendlich ein Nervenimpuls unser Gehirn erreicht. Das „verbogene“ Retinal wird durch andere Zellen aufgenommen, „geradegebogen“ und dem Opsin zur Bindung wieder zur Verfügung gestellt.

Abb. 3: Alle Gruppen von GPG-Rezeptoren sind trotz ihrer verschiedenen Primärsequenzen gleichartig aufgebaut (vgl. Text). Sieben spiralig geformte Abschnitte verankern den GPG-Rezeptor in der Membran. Ein mögliches Signal (dunkle Kreise) wird durch die Übertragung eines Phosphor-Atoms (Pfeile) zuerst an das G-Protein (mit den drei Untereinheiten ?, ? und ?) und von dort an einen Effektor (helle Box) weitergegeben. Der Effektor kann z.B. ein Ionenkanal oder ein Enzym sein, welches nachfolgende Effekte (z.B. Wahrnehmung des eingegangenen Signals) vermittelt. (Nach BOCKAERT & PIN 1999).

Neben der an sich schon erstaunlichen Tatsache, daß GPG-Rezeptoren auf eine erstaunliche Anzahl von Tausenden von verschiedenen Aktivatoren reagieren können, gibt es die bemerkenswerte Beobachtung, daß zwar alle GPG-Rezeptoren gleichartig aufgebaut sind und auch gleichartig funktionieren, sie gehören aber zu mindestens sechs verschiedenen Proteingruppen, die keinerlei Ähnlichkeit in ihrer Sequenz aufweisen. Hier hat das vermutete evolutionäre Tinkering „ganze Arbeit“ geleistet. Zum einen wurden, so die Vermutung, durch Mutationen die unterschiedlichsten Spezifitäten für verschiedenste Aktivatoren erreicht; zum anderen wird im selben Funktionszusammenhang ein in der äußeren Form zwar ähnliches, aber in seiner Aminosäureabfolge doch komplett unterschiedliches Protein benutzt, so als hätte ein imaginärer „Tinker“ einen vorhandenen Rezeptor herausgenommen und durch einen anderen passenden ersetzt. Angesichts solcher Beispiele wird es klar, warum JACOB metaphorisch von einem „Ballett der DNA-Fragmente“ spricht. Wichtig für unseren Zusammenhang ist die im evolutionären Rahmen gemachte Feststellung, daß es sich bei den GPG-Rezeptoren wohl um die ältesten Bauteile zur Wahrnehmung bestimmter Stoffe und Umwandlung dieser Wahrnehmung in ein Signal handelt. Mit anderen Worten, ein Vorfahr der zellkernhaltigen Organismen evolvierte auf unbekannten Wegen einen oder mehrere solcher Rezeptoren, den oder die alle nachfolgenden Generationen und Arten geerbt haben. Durch gene-tinkering, also durch „Herumflicken“ an diesem Gen und Funktionszusammenhang (verursacht durch Mutationen) wurde, so die Vermutung in ihrer Zusammenfassung, die erstaunliche Bandbreite sowohl an Aktivatoren als auch an Rezeptoren erreicht (BOKAERT & PIN 1999).

Hox-Gene
Abb. 4: Ein Fliegenauge entsteht in Drosophila, auch wenn man den genetischen Schalter eyeless aus einer Maus verwendet. (Aus HALDER et al. 1995; Abdruck mit freundlicher Genehmigung).

Das dritte Beispiel, meiner Ansicht nach eines der faszinierendsten, beschreibt eine Proteingruppe, die man auch als Master-Schalter bezeichnet. Sie sind in allen bislang untersuchten mehrzelligen Tieren zu finden. Es sind DNA-bindende Proteine mit einem sogenannten Helix-turn-Helix-Motiv (oder übersetzt: Spirale-Knick-Spirale). Mit Hilfe dieser Struktur können sie sich wie eine Wäscheklammer auf bestimmte Abschnitte der DNA setzen. Diese molekulare „Wäscheklammer“ schaltet nun durch Interaktion mit anderen Zellbestandteilen ebensolche Gene an (selten aus), auf die es sich gesetzt hat. Kurz: Hox-Proteine sind Regulatoren.

Das besondere an den Hox-Genen ist, daß sie am Anfang einer ganzen Kaskade von verschiedenen Genen sitzen. Die gesamte Kaskade kann zur Entwicklung eines bestimmten Organs, eines bestimmten Gewebes oder auch einer ganzen Extremität führen. Beispielsweise schaltet in Fruchtfliegen der Gattung Drosophila ein Hox-Gen namens Pax-6 die Augenentwicklung an. Wird Pax-6 ausgeschaltet, so entwickelt die Fliege keine Augen. Induziert man das Protein aber künstlich an einer Stelle, wo es normalerweise nichts zu suchen hat, z.B. im Brustbereich der Fliege, so wächst dort ein Auge. Die Faszination erhalten die Hox-Proteine dadurch, daß sie mehr oder weniger zwischen sehr verschiedenen Organismen austauschbar sind. Ersetzt man in der Fruchtfliege das Pax-6 durch das Mäuse-Protein Eyeless, so entwickelt sich ein ganz normales Auge, natürlich ein Fliegenauge, denn die Hox-Gene kodieren nicht selbst für die Augenentwicklung, sondern sie schalten sie nur ein (Abb. 4). Im Fall der Hox-Proteine wurden also nicht diese selbst „eingeflickt“, sondern die Gene der nachfolgenden Kaskade, die zum Auge führt, wurden durch die Evolution schrittweise so „hineingeflickt“, daß bei der Fruchtfliege ein typisches Insektenauge, bei der Maus aber ein typisches Säugerauge entstand (GEHRING & IKEO 1999; vergleiche auch RUVINSKY 2000).

Abb. 5: Die Cartoons von Rube GOLDBERG: eine Metapher für Biologie. Hier ist der „selbst-öffnende Regenschirm“ vorgestellt. Regen (A) fällt auf eine getrocknete Pflaume (B), diese quillt auf und bewegt einen Hebel (C) der wiederum die Hand (D) über das Feuerzeug (E) führt. Die Kerze (F) wird über die Funken (G) des Feuerzeugs entzündet und die Flamme (H) bringt das Wasser im Kessel (I) zum Sieden. Der Wasserdampf (J) betreibt die Pfeife (K), die den Affen (L) erschreckt. Er springt auf eine Schaukel (M), an der eine Klinge (N) befestigt ist. Diese Klinge zerschneidet den Faden (O), der einen Heliumballon (P) festhält. Der Heliumballon steigt auf und zieht an der Schnur die Käfigtür (Q) auf, die superstarken vitaminisierten Vögel flattern hoch und öffen den Regenschirm (R)! In den beiden kleineren Bildern fehlt entweder ein kleiner (der Affe) oder ein großer Teil (alles außer Regen, Affe und Regenschirm). Ein Punkt ist klar: In dem Ausmaß, wie die Natur in Form einer Rube Goldberg-Maschine funktioniert, kann die Ähnlichkeit zwischen Proteinen täuschen. Denn Affen finden sich in vielen Rube Goldberg-Maschinen, haben aber nur seltenst dieselbe Funktion (GOLD 1997). (Rube Goldberg is ® and © of Rube Goldberg Inc.)

Ist gene-tinkering mehr als eine Vermutung?

Die bislang besprochenen Beispiele beleuchten beispielhaft, wo überall „gene-tinkering“ vermutet wird. Als eine eingängige Metapher möchte ich diesen Teil der Biologie mit den Zeichnungen von Rube GOLDBERG vergleichen. GOLDBERG ist ein amerikanischer Cartoonist (1883-1970), der in seinen „Wöchentlichen Untersuchungen“ witzige Maschinen zeichnete, die nach einer schier unmöglichen Abfolge von Einzelschritten einen banalen Vorgang auslösen (Abb. 5). Genau wie Rube GOLDBERGs Maschinen sind auch biologische Vorgänge häufig komplex. Viele „Bauteile“, wie z.B. den Affen in der vorgestellten Zeichnung, hat Rube GOLDBERG immer wieder in den verschiedensten Zusammenhängen eingezeichnet (GOLD 1997). Daß gleichermaßen Gene oder Genabschnitte in Lebewesen ein- oder zusammengeflickt worden seien, wird aus den Ähnlichkeiten der einzelnen Bauteile gefolgert, mit dem Unterschied, daß GOLDBERG als Schöpfer seiner Zeichungen seiner puren Phantasie folgen konnte, während die Evolution bei der „Schaffung“ der Lebewesen allein naturgesetzlichen, doch durchaus zufälligen Wegen folgt(e). Trotzdem klingt das Beispiel eines „Baukastens“ von vorhandenen Domänen oder Motiven plausibel und ist gedanklich einfach nachzuvollziehen. Doch gibt es für die zugrundeliegenden Vorgänge direkte Belege in Organismen? Können solche vermuteten Prozesse wie gene-tinkering in der Natur ablaufen, allein durch Mutation und Selektion angetrieben? Müssen wir uns, weil evolutive Abläufe nun einmal sehr viel Zeit brauchen, diesbezüglich mit indirekten Schlußfolgerungen zufriedengeben? Um diese Fragen wenigstens ansatzweise zu beleuchten müssen wir zuerst einen kleinen Ausflug in die molekularen Abläufe in der Zelle machen, die als Voraussetzung für gene-tinkering gesehen werden. Anschließend werde ich einen empirischen Befund für gene-tinkering vorstellen.

Spleißen ist kein gene-tinkering

In unseren Zellen gibt es einen Prozeß, den man als gene-tinkering bezeichnen könnte, er selbst führt aber nicht zu evolutiven Veränderungen über die Zeit. Dieser Prozeß wurde aber selbst durch Evolution (diese vorausgesetzt) verändert. Die Rede ist vom „Spleißen“. Unsere Gene sind nur in den seltensten Fällen eine durchgehende Bauanleitung für Proteine. Es gibt Genabschnitte, die keinen Bauabschnitt für ein Protein beschreiben. Diese „leeren“ Genabschnitte werden nach dem Umschreiben des Gens in eine Art Blaupause (der RNA) herausgeschnitten. „Spleißen“ ist eine Anpassung des englischen „Splicing“ welches „verbinden“ heißt. Der Begriff bezieht sich auf die Verbindung der kodierenden Genabschnitte zu einem sinnvollen Ganzen. Die fertig „gespleißte“ Blaupause liefert dann die Bauanleitung für ein Protein. Interessanterweise kann nun ein Gen an verschiedenen Stellen gespleißt werden, z.B. indem zusammen mit einem „leeren“ Abschnitt ein sinntragender herausgeschnitten wird. Dieses alternative Spleißen ist häufig, so daß ein Gen oft zu mehr als einem Protein führt. Dieser Mechanismus ist in zellkernhaltigen Lebewesen (Pilze, Pflanzen, Tiere, u.a.) aktiv.

Eine interessante Feststellung des menschlichen Genomprojektes war – nachdem man die gesamte DNA eines Menschen sequenziert hatte – daß Menschen nicht, wie vermutet, erheblich viel mehr Gene als andere Organismen besitzen. Der Unterschied liegt aber in der erheblich vergrößerten Anzahl für alternatives Spleißen. Wie auch immer, dieser alltägliche Prozeß führt, wie oben schon beschrieben, nicht zu einer Veränderung der Organismen über die Zeit, da im Prinzip nur die Körperzellen selbst betroffen sind und die Nachkommen ja jeweils eine vollständige Kopie des gesamten Erbgutes (quasi ungespleißt) erhalten.

Das Rohmaterial für gene-tinkering
Abb. 6: Der Rekombinationsprozeß zwischen zwei Chromosomen. Durch Fehler in diesem Prozeß können DNA-Abschnitte verloren gehen und so ursprünglich nicht zueinander gehörende Gene oder Genabschnitte miteinander „verschweißt“ werden.

Der möglicherweise wichtigste Beitrag zum gene-tinkering bietet die sogenannte Rekombination. Normale menschliche Körperzellen enthalten einen Satz von 46 Chromosomen. Jeweils die Hälfte stammt von der Mutter bzw. dem Vater, damit liegen alle Gene in doppelter Anzahl vor. Ausnahmen sind in männlichen Individuen die Gene die auf dem weiblichen Geschlechtschromosom X, nicht aber auf dem männlichen Geschlechtschromosom Y liegen. Bei der Entstehung von Ei- bzw. Samenzellen kommt es zur sogenannten Reifeteilung, bei der die Anzahl der Chromosomen auf 23 halbiert wird. Bevor jedoch der Chromosomensatz von 46 auf 23 reduziert wird, kommt es zur besagten Rekombination zwischen zwei jeweils gleichartigen Chromosomen (Abb. 6). Die Chromosomen „vermischen“ sich dabei. Normalerweise ist dieser Mischungsprozeß gleichartig, das heißt exakt dieselben Genabschnitte des einen Chromosoms werden auf das andere übertragen und umgekehrt. Selten geschieht ein ungleicher Übertrag. Durch diese Fehlpaarung können nun Gene oder Genabschnitte „zusammengelötet“ werden, die vorher nichts miteinander zu tun hatten. Der Prozeß läßt sich vielleicht so anschaulich machen: Vor der Reifeteilung werden zwei gleichartige, aber doch unterscheidbare Kartenspiele (z.B. Rommé-Karten, einmal mit roter, einmal mit blauer Rückseite) miteinander gemischt. Hin und wieder geschieht es, daß bei diesem Mischprozeß Karten zerreißen. Normalerweise werden diese wieder korrekt zusammengeklebt, aber manchmal kommen verschiedene Kartenteile zusammen (z.B. ein As und ein Bube) und ergeben eine andere, so vorher nicht vorhandene Karte. Jedes Beispiel hat natürlich seine Grenzen, so vermehren sich Kartenspiele natürlich nicht von selbst und Karten verdoppeln sich auch nicht, wie Gene das können.

Es gibt sicher noch andere Faktoren, die beim gene-tinkering eine Rolle spielen könnten. So gibt es z.B. springende Gene, die Transposons genannt werden. Wie Transposons genau funktionieren, ist unerheblich; wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß manchmal das Transposon beim Springen andere Gene oder Genabschnitte mitnimmt. Diese Abschnitte werden dann zufällig irgendwo im Genom eingefügt und so können unterschiedliche Domänen zusammenkommen.

Auch führen bestimmte Mutationen unter Umständen zu einem gene-tinkering. Es kann zu Deletionen kommen, d.h. Abschnitte auf einem Stück Erbgut können wegfallen. So kommen möglicherweise Genabschnitte, die direkt vor der Deletion lagen, mit solchen direkt hinter der Deletion zusammen. Weitere Ursachen bieten Verdopplungen von Genen, die dann irgendwo anders einfach eingefügt werden. Viren oder Virenfragmente können hier auch eine Rolle spielen. So kann ein Virus ein bereits gespleißtes Gen (es liegt als RNA vor) in DNA zurückübersetzen und dieses Fragment wird dann in das Erbgut eingefügt. Die Liste an Möglichkeiten kann sicherlich verlängert werden; es ist jedoch auch zu bedenken, daß die allermeisten Ereignisse dieser Art für den Organismus schädlich sind. Nur wenn die neu zusammengefügten Genabschnitte eine positive oder mindestens neutrale Rolle im Organismus einnehmen, spricht man letztlich von gene-tinkering.

Ein Beispiel für „beobachtetes“ gene-tinkering

Es gibt meines Wissens nur wenige direkte (empirische) Hinweise auf gene-tinkering. Einzig mir bekannt ist das Gen jingwei in Drosophila teissieri (einer Fruchtfliege). Das Gen jingwei setzt sich aus dem Gen für eine Alkoholdehydrogenase und einem Abschnitt des Gens Yellow emporer (ymp) zusammen. Das Protein Ymp wird in den Hoden der Fliege produziert; dessen Gen hat sich anscheinend verdoppelt. Die Kopie erhielt dann die Alkoholdehydrogenase-Domäne. Das so entstandene neue Gen jingwei hat die regulatorischen Abschnitte von ymp geerbt und wird deshalb wie ymp selbst in den Hoden eingeschaltet. Es unterliegt DARWINscher Selektion und übt daher vermutlich eine Funktion aus, es ist aber leider nicht bekannt, in welchem Zusammenhang dies erfolgt. Dieses Beispiel ist auch deshalb interessant, weil es das erste gefundene vor kurzer evolutionstheoretischer Zeit neu entstandene Gen in der Gattung Drosophila ist. Man vermutet, daß es vor „nur“ zwei Millionen Jahren in der Art D. teissieri entstand (WANG 2000). Zweifellos handelt es sich nicht um eine bedeutsame Neuerwerbung (sonst hätte man vermutlich leichter auf die Funktion des neuen Gens jingwei schließen können), doch es sollen ja genau solche kleinen Veränderung am Anfang einer möglicherweise großen evolutiven Entwicklung stehen.

Es läßt sich zusammenfassend sagen, daß die Beispiele für vermutetes gene-tinkering Legion sind, die tatsächlichen Beispiele sind wohl rar. Es gibt sicher einige weitere Beispiele, die meiner Aufmerksamkeit entgangen sind. Immerhin, der Beweis des prinzipell möglichen gene-tinkerings ist aber auch mit nur diesem einen bekannten Beispiel erbracht. Die Antwort auf die oben gestellte Frage, ob gene-tinkering nur ein gedankliches Konstrukt oder ein tatsächlich abgelaufer Vorgang ist, lautet: „Es ist ein in der Natur vorkommender Vorgang, wenn er auch nur in einer sehr einfachen Form abläuft.“ Trotzdem dürfen und müssen weitergehende Fragen gestellt werden: „Kann gene-tinkering für die große Anzahl der vermuteten Fälle ebenfalls haftbar gemacht werden? Kommt es durch gene-tinkering wirklich zu einem evolutiven Fortschreiten, einer Höherentwicklung?“ Leider ist eine zufriedenstellende Beantwortung dieser Fragen aufgrund von Datenmangel zur Zeit kaum möglich, doch möchte ich im Folgenden auf ein paar Diskussionspunkte hinweisen.

Am Auge herumflicken
Abb. 7: Evolution einer Stoffwechselkette am Beispiel von Histidin (=Z). Voraussetzung ist, daß alle Zwischenstufen vom Grundstoff Q zum Endprodukt Z in der „Ursuppe“ vorhanden sind und daß die einzelnen enzymatischen Reaktionen von einer Zwischenstufe zur nächsten durch einige wenige Mutationen erreichbar sind. GEHRING & IKEO (1999) gehen davon aus, daß während der Augeevolution nicht nur am Anfang der Stoffwechselkette neue Glieder addiert wurden, wie in diesem Beispiel, sondern daß auch „Einfügungen“ innerhalb der Kette gemacht werden können. Pax-6 stände als Regulator am Anfang einer solchen Kaskade und Rhodopsin am Ende. „Einfügende Evolution“ soll die evolutive Entwicklung der Augen ermöglicht haben.

Kehren wir dazu nochmals zum Auge und dem Sehprozeß selbst zurück. Wie könnte die Entwicklung von einem Auge durch gene-tinkering unter der Regie des Hox-Genes ausgesehen haben? GEHRING & IKEO, zwei Wissenschaftler, die neben anderem die Hox-Proteine der Augen selbst untersucht haben, greifen auf eine Hypothese von HOROWITZ aus dem Jahr 1945 zurück: Die sogenannte „zurückschreitende Evolution“. Damit ist nicht gemeint, daß die Evolution zu „primitiveren“ Stadien zurückschreiten würde, sondern daß eine längere Kette von biochemischen Reaktionen (mit den dazugehörigen Proteinen) von einem Startpunkt aus zurückschreitend evolviert ist.

Ein Beispiel mag das erläutern. Histidin, eine Aminosäure, welche die Zellen zum Bau für ihre Proteine benötigen, wird in mehreren Einzelschritten aufgebaut, wofür insgesamt neun Enzyme, das sind katalytisch aktive Proteine, benötigt werden (Abb. 7). Es wird nun wie folgt spekuliert: Am Anfang hat der primitive Organismus Histidin direkt der Umwelt entnommen, dies ist der Startpunkt Z. Jedoch kam es irgendwann zu einem Hungerproblem, nahezu alles Histidin war aufgebraucht. Es war aber, so die Spekulation, ein Vorläufermolekül von Histidin (Y genannt) immer noch verfügbar und Zellen, die nun mit einem Enzym Y zu Z umwandeln konnten, hatten einen Selektionsvorteil, d.h. sie starben nicht an Histidin-Mangel. Es ergab sich, daß die Komponente Y irgendwann ebenfalls aufgebraucht war, doch ein Vorläufer von Y, X genannt, war immer noch verfügbar. Eine der Zellen erwarb die Möglichkeit, X in Y umzuwandeln, welches dann seinerseits weiter in Z umgewandelt werden konnte. Dies geschah nach und nach für alle neun notwendigen Schritte, so daß sich zurückschreitend vom Ausgangspunkt Z die Histidin-Synthese entwickelte: Q-R-S-T-U-V-W-X-Y-Z. Soweit die Hypothese von HOROWITZ.

Sich auf diese Annahme berufend schreiben GEHRING & IKEO zur Evolution des Auges: „Basierend auf dieser Logik nehmen wir an, daß morphogenetische (oder entwicklungsbedingte) Abfolgen von Genen sich durch „einfügende Evolution“ entwickelt haben. Voraussetzung ist die vorangehende Evolution eines lichtempfindlichen Proteins (Rhodopsin) und eines Hox-Proteins als Regulator (Pax-6 ähnlich), um einen ersten Augen-Prototyp zur Verfügung zu stellen. Dieser Prototyp kann nicht durch Selektion erklärt werden, denn Selektion kann Evolution nur dann vorwärtsbringen, wenn das Auge wenigstens in einem kleinen Ausmaß funktioniert, wie schon DARWIN erläuterte. Ist jedoch ein Augen-Prototyp entstanden, möglicherweise durch zufällige Ereignisse, kann die Selektion angreifen und es optimieren. Diese Mechanismus nennen wir ‘einfügende Evolution’, um ihn von der oben erwähnten ‘zurückschreitenden Evolution’ zu unterscheiden. Das prototypische Auge hat zwei Schlüsselgene erhalten, Pax-6 am Anfang und Rhodopsin am Ende der genetischen Kaskade. Immer komplexere und sensitivere Augen konnten nun durch die Einfügung von Genen in diese Kaskade entstehen“ (übersetzt nach GEHRING & IKEO 1999).

Eine Antwort, ob der vorgeschlagene Weg im Rahmen der Evolution ein möglicher ist, ist zur Zeit kaum möglich. Die embryonale Entwicklung eines Auges wird, wie schon beschrieben, von ca. 2000 bis 2500 Genen gesteuert und es existieren bislang noch nicht einmal realistische Denkmodelle, wie all diese Gene durch „einfügende“ oder „zurückschreitende Evolution“ in die Augenentwicklung eingebunden wurden, geschweige denn, daß man die Funktion und Interaktion aller beteiligten Gene überhaupt kennt.

Was war am Anfang?

Interessanterweise schreiben GEHRING & IKEO in ihrem Artikel über die Evolution des Auges, daß als ein Startpunkt ein prototypisches Auge vorhanden sein muß, damit DARWINsche Evolution angreifen kann. Dieser Startpunkt wird vereinfachend als Pax-6 und lichtempfindliches Protein, Rhodopsin angegeben. Jedoch, wir erinnern uns, ist selbst dieser einfachste anzunehmende Startpunkt für ein prototypisches Auge bereits eine komplexe Struktur. Rhodopsin ist einer der oben besprochenen GPG-Rezeptoren, die ihr Signal über das G-Protein an nachfolgende Instanzen weitergeben. Der gesamte Sehprozeß ist komplex, selbst wenn wir „nur“ von einer Hell-Dunkel-Wahrnehmung ausgehen, ganz abgesehen vom Aufbau und Recycling des Retinals bis hin zur Signalverarbeitung des Lichts (wieviel, woher) und der Reaktion darauf (z.B. Flucht). Es gibt anscheinend so etwas wie eine irreduzible Komplexität, mit anderen Worten, ein gewisser Mindestaufbau ist erforderlich, sonst funktioniert der entsprechende Prozeß nicht, noch nicht einmal in allereinfachster Form. Woher kommen also die benötigten Teile? Woher die verwendeten Domänen oder Motive? Jede Einzelheit muß ja irgendwann einmal evolutiv entstanden sein.3 Häufig wird angenommen, die benötigten Domänen seien in einem anderen Zusammenhang evolviert, doch das verschiebt doch nur das Problem: „Wie ist die entsprechende Domäne in dem anderen Zusammenhang evolviert?“

Ein gewisser Mindestaufbau ist erforderlich, sonst funktioniert
Darwinsche Selektion nicht.
Woher kommen die benötigten Teile?

Um nochmals auf das Beispiel des Kartenmischens als Bild für Rekombination von oben zurückzukommen: Zwei verschiedene Kartenspiele werden gemischt, dabei werden Karten zerrissen und unter Umständen falsch wieder zusammengeklebt. Kreative Kartenspieler mögen diese „falsch“ zusammengeklebte Karte akzeptieren und denken sich vielleicht eine neue Spielregel dafür aus, doch ob auf lange Sicht ein neues Kartenspiel entsteht, erscheint doch fraglich. Weiter gefragt: Woher kommt also das allererste Kartenspiel? Angewandt auf das Auge bedeutet das: Selbst wenn die Frage nach dem evolutionären Anfang des Auges gelöst werden könnte, so bleibt es fraglich, woher die über 2000 anderen Gene, die heutzutage ein Auge ausmachen, kommen. Weitere Fragen verbleiben: Woher kommen die Karten mit neuen Motiven? Und selbst wenn nun dieser Punkt, die Entstehung neuer Motive und die Einfügung derselben in die Kaskade zur Augenentwicklung nachvollziehbar wäre, so bleibt hier immer noch offen, wie neue Einfügungen reguliert werden. Oder im Beispiel der Karten: Woher kommen die neuen sinnvollen Spielregeln?

Gene im Tanz

Können Domänen und Motive wirklich ein JACOBsches „DNA-Ballett“ spielen? Um auf die Frage vom Anfang des Artikels zurückzukommen: Können neue Gene in komplexe Funktionszusammenhänge „eingetinkert“ werden? Neben diesen Fragen sind weitere spannende in diesem Artikel gestellt worden. Leider lassen sich die meisten bislang nur unzulänglich beantworten, ohne sich in weitere Hypothesen flüchten zu müssen. Das gilt sowohl im Rahmen einer Evolutionstheorie als auch in alternativen Erklärungsmodellen. Es sei aber angemerkt, daß ein Schöpfer in der Anordnung der Bauteile frei ist, ganz im Sinne von Rube GOLDBERG und seinen Maschinen. Ob die Evolutionsforschung natürliche Mechanismen für solche Freiheitsgrade aufzeigen kann, bleibt abzuwarten, auch wenn einige Wissenschaftler den Beitrag des gene-tinkering als entscheidend für die Evolution ansehen (vergleiche JACOB 2001).

Anmerkung

1 Für den interessierten Leser möchte ich hier jeweils ein Beispiel nennen: 1. g protein-coupled receptors, diese werden im Artikel unter GPG-Rezeptoren besprochen; 2.a Linsencrystalline in Augen; 2.b Hox-Gene für Augenentwicklung (pax-6 aus Drosophila, eyeless aus Maus); 3. cold shock domain / S1 domain, diese werden als zusammengefaßt als CSP-Domäne ebenfalls besprochen; 4.a g protein-coupled receptors; 4.b Histone und histonähnliche Proteine; 5. molekulare Uhren für circadiane Rythmen in verschiedenen Organismen.

2 Bei der „Verbiegung handelt es sich chemisch um eine cis-trans-Isomerisierung, bei der sich die Konformation des Moleküls ändert, so daß es nicht mehr binden kann.

3 Genau an diesem Punkt haken seit einiger Zeit einige Wissenschaftler mit einer Design-Theorie ein. Prominentester Vertreter ist sicherlich Michael BEHE. Er argumentiert, daß beispielsweise eine Mausefalle aus nur fünf Bauteilen besteht (Bodenplatte, Bügel, Feder, Haken, Futterhalter) und nicht weiter vereinfacht werden kann. Jedes weitere Bauteil, das entfernt wird, macht die Falle funktionslos (BEHE 1998). Gleiches gilt auch für ein prototypisches Auge, und man fragt sich: Wer hat wann und wie diesen ersten Prototyp „zusammengeflickt“?

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Studiengemeinschaft WORT und WISSEN e.V.
Letzte Änderung: 20.04.2007
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