9.8 Entstehung einer molekularen Maschine durch Evolution?

An dieser Stelle finden Sie zum Abschnitt 9.4 des Buchs „Evolution - ein kritisches Lehrbuch“ eine Ergänzung und Aktualisierung.

Die Entstehung des bakteriellen Rotationsmotors ist unbekannt (PDF 900 KB)


Zusammenfassung:

In diesem Text wird eine vertiefte Diskussion der Frage nach der Makroevolution molekularer Maschinen am Beispiel des Bakterienrotationsmotors vorgelegt. Sie ergänzt Abschnitt 9.4 von Junker & Scherer (2013). Anlass dazu ist u.a. ein spekulatives Evolutionsszenario (Matzke 2006) von Nicholas Matzke. Obwohl dieses Szenario bis heute nicht Bestandteil der wissenschaftlichen Literatur ist, sondern nur in Diskussionsforen und auf privaten Internetseiten publiziert wurde, und trotz dessen hochspekulativer Natur, ist es aus zwei Gründen interessant. Erstens schlägt Matzke einen hypothetischen Weg vor, auf dem er sich die Entstehung des Bakterienmotors denken kann, ohne dass alle wesentlichen Teile einer nichtreduzierbar komplexen Maschine gleichzeitig vorhanden sein mussten. Das ist bedeutsam. Zweitens ist es m.W. bis heute der einzige auf einer mechanistischen Ebene formulierte Vorschlag zur Entstehung eines Bakterienrotationsmotors.

Junker & Scherer (2006, S. 162) schrieben, dass 16 Proteine für einen Bakterienmotor notwendig seien, die gleichzeitig vorhanden sein müssen. Diese Ansicht ist im Hinblick auf Matzkes Evolutionsmodell kritisch zu hinterfragen. Falls Matzkes Modell die Evolution des Bakterienmotors modellhaft beschreibt, würden die von Evolutionskritikern angesprochenen Lücken in der gedachten Evolution des Bakterienmotors deutlich verkleinert. Das wäre – bei allen nachstehend ausgeführten, schwerwiegenden Problemen von Matzkes Hypothese – zunächst einmal als Fortschritt evolutionstheoretischer Modellbildung hinsichtlich der Entstehung nichtreduzierbar komplexer biologischer Strukturen zu werten.

Nach einer generellen Einführung in die Problematik wird festgehalten, dass die Ähnlichkeitsbeziehungen einer unübersehbaren Vielfalt von Bakterienmotoren zwanglos im Sinne einer Abstammung von einem oder wenigen ursprünglichen, allerdings bereits komplexen Motoren gedeutet werden können. Danach wird begründet, warum es sich beim Bakterienmotor zweifellos um eine nichtreduzierbar komplexe Struktur handelt, welche aus mindestens 20, aber vermutlich mehr unterschiedlichen Proteinen besteht. Andererseits wird abweichend von der landläufigen, vor allem in der amerikanischen ID-Literatur vertretenen Position dargestellt, warum diese Eigenschaft einer biologischen Struktur an sich noch kein schlüssiges Argument gegen eine auf ungerichteten Prozessen beruhende Evolution des Bakterienmotors ist.

Im Hauptteil der Arbeit werden die verblüffende Multifunktionalität einzelner Substrukturen des Bakterienmotors sowie das darauf beruhende Evolutionsmodell nach Matzke kritisch analysiert. Dabei konzentriert sich die folgende Analyse stellvertretend auf einen einzigen Evolutionsschritt auf dem Weg der postulierten Entstehung des Bakterienmotors, nämlich auf die Kooption eines Adhäsionsproteins. Dieser Evolutionsschritt wurde gewählt, weil dies einer der einfachsten Schritte in Matzkes Modell ist. Nur ein einziges Protein muss im Evolutionsprozess durch Kooption und Variation hinzugewonnen werden. Andere hypothetische Schritte in Matzkes Szenario sind weitaus komplexer. Das Ergebnis dieser Detaildiskussion lautet, dass unbekannt ist, ob und wie durch Kooption und Mutation im Laufe der hypothetischen Entstehung des Bakterienmotors der Zugewinn eines einzigen Adhäsions-Proteins hätte ablaufen können. Diese Schlussfolgerung und ihre Begründung wurde im Hinblick auf Matzkes Modell im Frühjahr 2008 auf einem interdisziplinären Kolloquium an der Universität Regensburg erstmals vorgetragen (Scherer 2009). Abschnitt 10 des folgenden Textes stammt im Wesentlichen aus dieser Quelle. Darüber hinaus wird begründet, warum die Mechanismen der evolutionären Kanalisierung und der Begrenzung der Variabilität von durch Mehrfachfunktionen besetzten biologischen Strukturen Anlass zu der Vermutung geben, dass Matzkes postulierte Evolutionsstufen – selbst wenn sie an sich selektionspositiv sein sollten – nicht ohne weiteres Basisfunktionszustände darstellen, die von einer primitiven Typ 3-Sekretion über kleinste Schritte zu einem Bakterienrotationsmotor führen.

Matzkes Modell ist insgesamt keine belastbare und überzeugende Hypothese zu Evolution des Bakterienmotors. Folgerichtig wurde sie bis heute in der wissenschaftlichen Literatur weder vorgestellt noch diskutiert. Matzke selber hat darauf verzichtet, seine Hypothese in seiner Publikation zum Bakterienmotor, die in einem referierten wissenschaftlichen Journal erschienen ist, vorzustellen (Pallen & Matzke 2006).

Aus der detaillierten Diskussion der einzelnen Änderungen, die für eine Kooption eines Adhäsin-Proteins vermutlich erforderlich sind, ergeben sich Hinweise auf konkrete Forschungsprojekte, die zur Aufklärung eines postulierten evolutiven Entstehungsweges des Bakterienmotors durchgeführt werden könnten. Ob ein auf experimentellen Daten beruhender und künftig zu erwartender Wissensfortschritt die vorhandenen Erklärungsprobleme verkleinern oder vergrößern wird, ist derzeit nicht zu sagen.

Das Ergebnis der vorliegenden Erörterung markiert eine Wissenslücke evolutionsbiologischer Forschung. An anderer Stelle wurde erläutert, warum derartige Wissenslücken keine zwingenden Argumente gegen die Evolution eines Bakterienrotationsmotors oder für die Existenz eines Designers sind (Scherer 2009).

April 2010

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Letzte Änderung: 16.04.2010
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