Zusammenfassung: In diesem Artikel werden neue Methoden vorgestellt, durch die mit Hilfe embryologischer Daten Rückschlüsse auf die Stammesgeschichte gewonnen werden sollen. Dabei handelt es sich um computergestützte Analysen sowie um die Bedeutung der Homeobox-Gene für Evolution. Die neuen Methoden haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie die klassischen Vorgehensweisen. Inhalt
Seit Darwins Publikation im Jahr 1859 gilt die Embryologie als wichtige Informationsquelle für die Aufhellung stammesgeschichtlicher Zusammenhänge. Daran änderte auch die viel diskutierten und kritisierten Veröffentlichungen Haeckels zu diesem Thema nichts (vgl. Biogenetisches Grundgesetz Geschichte und Biogenetisches Grundgesetz Beispiele). Zahlreiche alternative Deutungsversuche auf unterschiedlichen Ebenen wurden entwickelt. Dennoch gelang nach Einschätzung von Richardson et al. (2001) bisher keine generelle Integration ontogenetischer Studien in die phylogenetische (= die Stammesgeschichte erforschende) Methodologie und Modellbildung. Die Ursachen sind nach Ansicht dieser Autoren auf drei unterschiedlichen Ebenen auszumachen. 1. Zunächst entwickelten sich die modernen phylogenetischen Methoden der Synthetischen Evolutionstheorie in einer Zeit, als die Embryologie ihre zentrale Stellung in der Evolutionsbiologie verloren hatte (Gould 1977). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt das Biogenetische Grundgesetz für viele Forscher als widerlegt. In dieser Zeit verschob sich der Schwerpunkt der embryonalen Forschung vom Vergleich Haeckelscher Portraitgalerien (vgl. Abb. 1) zur experimentellen Seite. Nun stand die Suche nach universellen Entwicklungsmechanismen oder -prinzipen im Vordergrund. 2. Es wurden zwar dennoch „konservierte“ Merkmale bzw. Stadien gesucht und miteinander verglichen, doch mangelte es aufgrund der methodischen und terminologischen Mängel (vgl. Biogenetisches Grundgesetz Geschichte und Biogenetisches Grundgesetz Beispiele) insgesamt an objektivierbarer bzw. quantifizierbarer Schärfe. Zentrale Fragen konnten nicht befriedigend im Sinne phylogenetischer Zusammenhänge gelöst werden. Dazu gehört vor allem die Frage, was sind ursprüngliche und was abgeleitete Merkmale sind. 3. Die besonderen Eigenschaften ontogenetischer Entwicklungsprozesse und -merkmale können nicht pauschal in quantitativ arbeitende phylogenetische Methodologien eingepasst werden. Die Ontogenese ist ein vierdimensionaler Prozess und muss entsprechend analysiert werden. Drei Dimensionen betreffen dabei die Veränderungen im Raum und die vierte den Wandel in der Zeit. Die phylogenetische Analyse stellt eine fünfte Dimension dar, weil die Entwicklungswege unterschiedlicher Arten und ihre Beziehung zueinander betrachtet werden. Eine große Anzahl von „developmental constraints" engen den Spielraum der Evolution erheblich ein. Damit sind Zwänge gemeint, die dem phylogenetischen Wandel ontogenetischer Abläufe Grenzen setzten und die theoretisch mögliche Variationsbreite der Merkmalsdiversifikation bestimmen (siehe Abb. 2). Sie engen den Spielraum der Evolution erheblich ein. Diese Entwicklungszwänge werden im evolutionären Kontext dafür verantwortlich gemacht, dass nur eine relativ geringe Anzahl grundsätzlicher Bauplantypen im Tierreich existiert und innerhalb eines Bauplantypus homologe Organe auftreten (Hall 1996).
Bevor wir uns den einzelnen modernen Aspekten der Verknüpfung von Ontogenese und Phylogenese zuwenden, zitieren wir eine Einschätzung von Doboule (2003, 277) zur geschilderten Problematik: „Es mag etwas überheblich erscheinen, die vierte Dimension aus der DNA zu extrahieren, während es uns immer noch an einem kompletten Verständnis der anderen drei Dimensionen mangelt. Aber das ist das Privileg und die Schwierigkeit, wenn man mit Embryonen arbeitet: Die räumliche Konstruktion lässt sich nur im Licht der Zeit begreifen. In ähnlicher Weise wird uns die evolutionäre Genomik wahrscheinlich erklären, was im Verlauf der Phylogenese geschehen ist und unsere ontogenetischen Uhren könnten entschlüsselt werden durch ausgedehnte vergleichende Analysen.“ (1) (Originalzitat am Ende des Artikels)
Während Haeckel die Ontogenese auf die Phylogenese ursächlich zurückführte (vgl. Biogenetisches Grundgesetz Geschichte und Biogenetisches Grundgesetz Beispiele), ging die Synthetische Evolutionstheorie von einem entgegengesetzten Ansatz aus. Erbliche Veränderungen ontogenetischer Prozessablaufe gelten danach als ein wesentlicher Ausgangspunkt des phylogenetischen Wandels. Die variable Ausprägung homologer Organe stammesgeschichtlich verwandter Arten führte man u.a. auf phylogenetisch fixierte Änderungen ihres Entwicklungsmodus zurück. Diese beeinflussten vor allem Größe, Form und Differenzierungsgrad (sog. „Biometabolische Modi“ nach Severtzoff 1931; De Beer 1930, 1958, sog. „Clock-Modell“ von Gould 1977). Beispielsweise ist Acceleration („Beschleunigung“) nach de Beer ein Prozess, der das deutlich frühere Auftreten eines ausdifferenzierten Organs in der Ontogenese eines Individuums im Vergleich zur Vorgängerart bewirkt. Ein Beispiel ist die Krallenbildung beim Hoatzin-Nestling (Jungvogel) im Vergleich zu Ahnen mit adult (= ausgewachsen) vorhandenen Krallen an den Flügeln wie beim „Urvogel“ Archaeopteryx. Der gegenläufige Modus hierzu wird als Retardierung bezeichnet (also eine Verlangsamung bzw. ein Zurückbleiben gegenüber der Normalentwicklung). Ein Beispiel dafür ist die Schädelform des erwachsenen Menschen, die der eines jungen Gorillas ähnelt (Abb. 3; nach dem Biogenetischen Grundgesetz müsste es genau umgekehrt sein: Der Schädel eines ausgewachsenen Gorillas sollte in dem Form dem Schädel eines jungen Menschen ähneln). Solche Prozesse können bis zu einem gewissen Grad tatsächlich im Bereich mikroevolutiver Veränderungen (vgl. II.4.3 im Lehrbuch und Mikro- und Makroevolution) innerhalb eines Grundtyps beobachtet werden (vgl. VII.16.4 im Lehrbuch). Hier kann beispielsweise das sog. allometrische Wachstum des Geweihs bei Hirschen oder der Augengröße beim Tarsier (Koboldmaki) genannt werden. Das vorhandene Variationspotential für modifikative Abwandlungen innerhalb einer Art bzw. des Grundtyps wird offensichtlich auch durch eine begrenzte Plastizität ontogenetischer Abläufe abgerufen. Hinsichtlich des makroevolutiven Wandels besitzen diese deskriptiv formulierten Mechanismen bisher nur spekulativen Wert. Ihre Quantifizierung soll durch das „event pairing“ und das „3D-Patterning“ wesentlich verbessert werden. Die erforderliche kausale Verknüpfung von Ontogenese und Phylogenese auf molekularbiologischer und genetischer Basis schien durch die Entdeckung der Homeobox-Gene sowie ihrer Funktionen eine vielversprechende hypothetische Basis zu erhalten. Auf diese Konzepte und Entdeckungen kommen wir im folgenden zu sprechen.
Der methodische Ausweg aus den geschilderten Problemen der traditionellen vergleichenden Entwicklungsbiologie wird von Richardson und seiner Arbeitsgruppe in neuen computergestützten Analysen quantifizierbarer embryonaler Daten gesehen. (Die traditionellen Untersuchungen stützen sich dagegen meist auf den nicht quantifizierbaren Vergleich von „Portrait-Galerien“.) Nach den neuen Methoden werden die in der Ontogenese von Individuen auftretenden Merkmale unter Berücksichtigung ihrer räumlichen bzw. zeitlichen Charakteristik auf molekular-genetischer oder anatomischer Ebene quantitativ erfasst. In einem zweiten Schritt erfolgt der Vergleich dieser Daten mittels Computeranalysen innerhalb und außerhalb der Artgrenzen als Grundlage für eine phylogenetische Interpretation.
Event pairing. Der Entwicklungsweg eines Individuums wird in eine Serie von Einzelereignissen („events“) untergliedert, wobei diese als Änderungen von Zuständen (Auftreten oder Verschwinden eines Merkmals, z. B. der Augenanlage, der Herzanlage, der Extremitätenknospen u.s.w.) definiert werden (vgl. dazu Abb. 4) . Die einzelnen Ereignisse dokumentieren gleichzeitig den Beginn oder das Ende der Expressionsaktivität (= Ablesen und Nutzung der Information) eines Gens oder eines Genclusters. Eine Serie dieser Ereignisse, geordnet in chronologischer Reihenfolge, wird als Entwicklungssequenz bezeichnet.
Die Schlüsselmethode zur quantitativen Analyse einer solchen Sequenz ist das „event pairing", die paarweise Erfassung aller Ereignisse einer Sequenz und damit der relativen zeitlichen Beziehungen aller Ereignisse zueinander. Zum Beispiel mag in einer Art das Ereignis „X“ vor dem Ereignis „Y“ auftreten. Im Vergleich mit Sequenzen anderer Arten kann nun geklärt werden, ob das Ereignis „Y“ vor „X“, gleichzeitig mit „X“ oder nach „X“ auftritt. Die Unterschiede der „event pairing"-Datensätze zwischen verschiedenen Arten sind Ausdruck einer anderen zeitlichen Steuerung (Timing) von Entwicklungsereignissen hinsichtlich ihres Beginns oder ihrer Dauer in den jeweiligen individuellen Entwicklungssequenzen. Unter dem Begriff „Heterochronien“ (= zeitliche Verschiebungen) (s. o.) sind diese zwar schon seit Haeckel bekannt und vielfach diskutiert, können nun aber mit einem Zahlenwert („Score“) von 0 bis 2 quantifiziert werden (0: „X“ tritt vor „Y“ auf; 1: „X“ tritt mit „Y“ auf , 2: „X“ tritt nach „Y“ auf). Bei einer großen Anzahl von betrachteten Ereignissen lassen sich dann diese Ergebnisse nutzen, um statistisch vergleichende Analysen durchzuführen und phylogenetische Fragestellungen anzugehen (z.B. bei Jeffery et al. 2002, Binanda-Emonds et al. 2003a). Eine Modifikation dieser Technik, das „event pair cracking“, erlaubt Schlüsselheterochronien zu bestimmen, denen dann besonderes Gewicht bei der Klärung der Diversifikation (= Verschiedenwerden) innerhalb phylogenetischer Linien zukommt. Dabei werden Einzelereignisse gegenüber einem Block definierter „event pairs“ (das sind meist als abgeleitete eingestufte Merkmale) getestet, um zeitliche Verschiebungen von Einzelereignissen bei unterschiedlichen Arten als aktiven oder passiven (d.h. mitgeschleppten) Vorgang zu erfassen (Mabee & Trendler 1996, Smith 1996). Zusätzlich ist es möglich, mit dem „event pairing“ Veränderungen des Entwicklungsablaufes bei unterschiedlichen Rahmenbedingungen (z.B. Sauerstoffgehalt bei der Entwicklung des cardiovaskulären Systems von Knochenfischen) innerhalb einer Art zu studieren. Dadurch erhofft man sich einen quantitativen Zugang, um die oftmals erstaunliche innerartliche phänotypische Plastizität besser zu charakterisieren. 3D-patterning. Schon lange sind Techniken zur Rekonstruktion dreidimensionaler Modelle anatomischer Strukturen während der Embryonalentwicklung bekannt (z. B. Blechschmidts Rekonstruktion der menschlichen Ontogenese) und in vielfacher Anwendung. Neu ist nun der Versuch, diese räumlichen Modelle in eine computergestütze Datenbank zu übertragen und diese wiederum über die Artgrenzen hinaus zu vergleichen. Entscheidend dabei ist die Festlegung und Definition einer Matrix als Referenzsystem der zu vergleichenden räumlichen und zeitlichen Merkmalsmuster. Diese Matrix existiert bereits für einzelne Modellobjekte der Embryologie, nämlich von der Maus und dem Zebrafisch (Baldock et al. 1997, Verbeek et al. 1998, 2002). Als Daten werden histologische (= gewebliche) Merkmale erfasst, die einerseits einem anatomischen Kennzeichen, anderseits exprimierten Genen oder Genclustern zugeordnet sind. Letztere repräsentieren gleichzeitig eine Art Status des anatomischen Merkmals in der Zeit (vgl. Abb. 5). Um den Unschärfen bei der Verwendung anatomischer Begriffe zu begegnen, die ja im Verlauf der Entwicklung keine Konstanten innerhalb einer Art und erst recht über die Artgrenzen hinaus darstellen, bemüht man sich, die Matrix durch Volumenelemente (sog. „Voxel“) und den Status der anatomischen Kennzeichen als Liste exprimierter Gene zu definieren. Bisherige anatomische Bezeichnungen (wie z.B. „chorda dorsalis" oder „Entoderm“) dienen dann „nur“ noch als Referenzen bei der Etablierung solcher Systeme im Zusammenhang mit der ersten Datenaufnahme oder als Orientierungshilfe bei der Untersuchung des entsprechenden embryonalen Objekts. Das Voxel kann eine Zelle, einen Zellverband oder ein Gewebe repräsentieren. Der Vergleich dieser voxelbasierten Datensätze über die Artgrenzen hinaus erlaubt dann wiederum quantitative Aussagen zu Ähnlichkeiten oder Unterschiede auf der Ebene raum-zeitlicher Differenzierungen.
Richardson erwartet neue, tiefere und faszinierende Einsichten auf der Grundlage der oben geschilderten Methoden für den Vergleich der komplexen, sich in vier Dimensionen vollziehenden Entwicklungsverläufe von Organismen. Dem ist zuzustimmen. Die Kapazitäten heutiger Computer lassen es zu, die zahllosen Daten verschiedener Arten unter mehreren Aspekten auszuwerten (innerartlich bzw. überartlich, organspezifisch, funktionsspezifisch usw.). Bei aller Euphorie bleibt jedoch noch eine Fülle an Detailarbeit zu tun. Die Erforschung und exakte Beschreibung der vielen Ontogenesen von Tieren unterschiedlicher Stämme ist erforderlich, um eine entsprechend breite Datenbasis für die neuen Methoden zur Verfügung zu stellen. Die bisher vorliegenden Ergebnisse bei Nutzung des „event pairing“ haben bereits manch lieb gewonnene Vorstellung, die auf der Basis der herkömmlichen Methoden erstellt wurde, in Frage gestellt. Nachdem Richardson (1995, 1997) bereits mit dem klassischen Vorgehen nachwies, dass kein „phylotypisches Stadium“ bei den Wirbeltieren existiert, belegten Bininda-Emonds et al. (2003a) dies quantitativ. Sie zeigten, dass gerade in der dafür favorisierten mittleren embryonalen Phase die morphologischen Differenzen und die Verschiebungen in den entsprechenden Entwicklungssequenzen bei Wirbeltieren (Heterochronien) am stärksten ausgeprägt sind. Die Idee von einem besonders konservierten und daher phylogenetisch signifikanten Embryonalstadium kann damit wohl als widerlegt gelten. Eine andere Untersuchung beschäftigte sich mit einem bislang favorisierten Mechanismus an der Wurzel der Stammesgeschichte der Säugetiere. Mit der Methode des „event pairing“ ging man der Fragestellung nach, ob durch Heterochronien (= zeitliche Verschiebungen der Entwicklungsabfolgen) deren große Diversifikation (= Verschiedenwerden) zu erklären ist. Gould (1977, 1982), Raff (1996) und andere vermuteten, dass insbesondere Veränderungen von Wachstumsraten (allometrische Heterochronien) in frühen embryonalen Phasen hinter dem evolutionären Wandel der Säugetiere stehen könnten. Die Ergebnisse von Bininda-Emonds et al. (2003b) konnten dies nicht bestätigen. Die 116 untersuchten embryonalen Entwicklungsereignisse („events“) zeigen erstaunlicherweise zwischen den Säugetiergruppen (z.B. Paarhufer, Primaten, Nagetiere) kaum Unterschiede hinsichtlich ihres relativen zeitlichen Auftretens beim Vergleich der jeweiligen Entwicklungssequenzen. Beim Vergleich mit anderen Gruppen der Wirbeltiere (vor allem Tetrapoda (= Vierbeiner)) sind demgegenüber ausgeprägte Heterochronien (s.o.) nachweisbar. Die Autoren schlussfolgern, dass spezielle Entwicklungszwänge („constraints“) am Beginn der Säugetierevolution bestanden, die einem evolutionären Wandel der Entwicklungssequenzen in frühen embryonalen Stadien durch Heterochronie entgegenstanden. Welche Mechanismen zur Radiation (= vielfache Aufspaltung) der Säugetiere führten, bleibt weiter offen. In einzelnen Fällen werden postembryonal wirksame Heterochronien (z.B. durch allometrisches Wachstum der Flosse beim Vorfahren von Delphinen) favorisiert. Die Auswertung der quantifizierten embryonalen Daten wird auch für die Erstellung von „Stammbäumen“ genutzt. Die ersten Ergebnisse für eine Gruppe von Wirbeltieren (Amnioten) entsprechen fast vollständig den vorliegenden cladistischen phylogenetischen Systemen (Jeffery et al. 2002). Nur die Einordnung der braunen Ratte korreliert nicht mit dem bisherigen Schema und wirft entsprechende Fragen hinsichtlich der phylogenetischen Einordnung der Nagetiere auf.
Die neuen Werkzeuge sind aber nicht frei von methodischen Schwachpunkten und können auch nicht alle alten inhaltlichen Probleme der vergleichenden Forschung lösen. Ein Nachteil der „event pairing"-Methode wird darin gesehen, dass nur relative Unterschiede zwischen Ereignissen von Entwicklungssequenzen angezeigt werden können. Treten zum Beispiel die Merkmale „X“ und „Y“ bei einer Art nacheinander und in einer zweiten in der umgekehrten Reihenfolge auf, kann nur der relative Versatz beider Ereignisse beschrieben werden. Wir wissen aber nichts darüber, welches dieser Ereignisse sich in welche Richtung, wann und warum es sich verschoben hat. Theoretisch lassen sich dafür fünf Verschiebungsmöglichkeiten ableiten, die fünf möglichen phylogenetischen Wegen entsprechen, ohne dass einer von der Methode her favorisiert werden kann (vgl. Abb. 6). Ein zweites Problem besteht darin, dass Merkmalskombinationen, die phylogenetisch einander nicht beeinflussen sollten (z.B. Extremitätenknospen und Augenanlage) gleichberechtigt mit phylogenetisch einander bedingenden Merkmalskombinationen (Gehirnanlage mit Augenanlage) betrachtet und analysiert werden. Ein drittes Kernproblem hat die neue Methode jedoch von den klassischen Methoden übernommen. Das deskriptive Feststellen von Unterschieden im Auftreten von Ereignissen in Entwicklungssequenzen und deren numerische Quantifizierung mit einem Zahlenwert (0; 1; 2) belegt und beweist nicht, dass es diese Verschiebungen in der Geschichte auch tatsächlich gegeben hat. „Event pairing“ vermag keine Antwort auf Frage nach den kausalen Mechanismen eines solchen Wandels im Raum-Zeit-Kontinuum des sich entwickelnden Organismus zu geben. Daran ändert sich auch nichts, wenn wir genau wissen, welche Genaktivitäten mit welchen morphologischen Merkmalen und ihren Änderungen gekoppelt sind (3D-patterning). Interessant wird sein, wie man argumentativ mit den „quantifizierbaren“ Konvergenzen (= Ähnlichkeiten, die unabhängig entstanden sind) in Entwicklungssequenzen von Arten unterschiedlicher phylogenetischer Linien umgeht. (Zum Thema „Konvergenz“ vgl. V.10.1 im Lehrbuch.) Die kausale Begründung der „5.“ Dimension, des phylogenetischen Wandels von Ontogenesen in der Zeit, und nicht allein dessen deskriptive hypothetische Darstellung auch auf rein quantitativer Ebene, bleibt die große Herausforderung für die Embryologie im Kontext der aktuellen „Evo-Devo“-Debatte (vgl. Evo-Devo). Für die Schöpfungslehre können die diskutierten methodischen Ansätze hilfreich sein, um andere Facetten des Variationspotentials innerhalb bekannter Grundtypen zu erfassen (vgl. VII.16.3 und VII.16.4 im Lehrbuch).
Die Homeobox-Gene (vgl. III.6.3.9 im Lehrbuch) werden häufig als Schlüsselgene der phylogenetischen Diversifikation (= Verschiedenwerden) betrachtet. Sie wurden bei allen Tierstämmen entdeckt und sind innerhalb von sog. Hox-Clustern überall ähnlich angeordnet (vgl. Abb. 7). Mutationen von Homeobox-Genen haben oft dramatische morphologische Auswirkungen zur Folge (z.B. homeotische Mutationen bei der Fruchtfliege Drosophila; vgl. Abb. 8 unten rechts). Auf ihre funktionellen Besonderheiten im Verlauf der Embryonalentwicklung, die ihnen unter anderen die Bezeichnung „Masterkontrollgene“ oder „Segementierungsgene“ eingebracht haben, wird im Abschnitt III.6.3.9 im Lehrbuch näher eingegangen.
Phylogenetisch (= stammesgeschichtliche) von besonderem Interesse ist die erstaunliche Ähnlichkeit einer Sequenzabfolge der Homeobox-Gene, die Homeobox, bei allen Tieren. Sie erreicht Werte von 60-80%. Eine noch größere Ähnlichkeit erreichen die von der Homeobox codierten Proteinabschnitte (Homeodomäne). So zeigt zum Beispiel die bekannte Antennapedia-Homeodomäne von Drosophila zu der homologen Homeodomäne beim Menschen (im Hox-2 Cluster) nur einen einzigen Aminosäurenaustausch. Weiter kennzeichnet die z.T. in Genkomplexen angeordneten Homeobox-Gene (Hox-Cluster) eine räumliche, manchmal auch zeitliche Kolinearität zwischen der Anordnung der Homeobox-Gene auf den Chromosomen und ihres Expressionsmaximums entlang der Körperachse. Das heißt, die den Bereich der Kopfregion bestimmenden, häufig früher aktivierten Gene sind am 3‘-Ende des Komplexes und die häufig später aktivierten Gene, welche die hinteren oder unteren Körperregionen bestimmen, am 5‘-Ende des Komplexes gelegen (Kmita & Duboule 2003). Diese bislang einmalig nachgewiesene Kolinearität findet sich bei vielen Tiergruppen regelhaft. Während bei Drosophila ein zweigeteilter Komplex von Hox-Genen auf dem 3. Chromosom bekannt ist (Bithorax und Antennapedia), besitzen Wirbeltiere vier ähnliche Komplexe mit zahlreichen Homologien zu dem von Drosophila auf vier Chromosomen. Diese Komplexe werden Hox a, Hox b, Hox c und Hox d genannt und umfassen jeweils 13 oder 14 Hoxmeobox-Gene (vgl. Abb. 7). Eine weitere Gruppe homeotischer Gen-Komplexe wird Para-Hox-Cluster genannt. Bei den Hohltieren werden diese Komplexe aus zwei („Gsh“ und „Cdx“) bei den Bilateria (zweiseitig symmetrische Tiere mit Leibeshöhle) aus drei Genen („Gsh“, „Xlox“ und „Cdx“) gebildet. Ihre große Sequenzähnlichkeit zu einzelnen Homeobox-Genen in den Hox-Komplexen wird mit einer gemeinsamen evolutionären Entstehung in Zusammenhang gebracht (s.u.). Auf der Grundlage dieser und anderer überraschender Fakten wurden zahlreiche spekulative Ansätze einer Erklärung zur Entstehung bzw. Abwandlung vorhandener anatomischer Strukturen oder von makroevolutiven Sprüngen (von einem Tierstamm oder Tierklasse zu einer anderen) entworfen. Änderungen der Anzahl, der Anordnung, der Sequenzen oder des regulativen Einflusses von Homeobox-Genen oder der Hox-Komplexe sollen danach z.B. zu folgenden Entwicklungen geführt haben: dorsoventrale Inversion der Grundbaupläne von Wirbellosen zu den Wirbeltieren (Gerhing), Diversifikation der Extremitätenmorphologie sowie der Wirbelsäulenmorphologie bei Wirbeltieren (Richardson 2003, 2004, Gehring 2001), Ableitung des Nervensystems der Wirbeltiere und der Insekten von anzestralen (= Vorläufer) Hemichordata (Lowe 2003), monophyletische Entstehung eines Prototyps „Auge“ mit den entsprechenden genetischen Regulationssets für die Augenentwicklung und nachfolgende divergente, parallele und konvergente Evolution von ca. 40 Augentypen (Gehring 2001) (vgl. III.6.3.9 im Lehrbuch) oder der Ableitung des Vogelflügels von der Dinosaurierextremität (Pennisi).
Die allgemeine Gültigkeit der Kolinearitätsregel während der Expression homeotischer Gene und die große Ähnlichkeit der Homeobox im Tierreich gelten als wichtige Argumente, dass die in den Komplexen enthaltenden Homeobox-Gene (z.B. bei Drosophila und beim Menschen) stammesgeschichtlich homolog sind (Gehring 2001), d. h. das es sich um Gene gemeinsamer Abstammung handelt. Im evolutionären Kontext sind die nachfolgend angesprochenen Fragen zur Entstehung und Entwicklung der Hox-Cluster deshalb von zentralem Interesse.
1. Wie, wann und bei welchem Tier entstand das erste homeotische Gen und daraus der erste Proto-Hox-Komplex? Da bei einzelnen Vertretern heutiger Hohltiere (Coelenterata, z.B. Seeanemonen) und den Bilateria (Tiere mit Leibeshöhle, z.B. Gliederfüßer, Weichtiere, Wirbeltiere) Hox-Komplexe nachweisbar sind, wird die Entstehung der ersten homeotischen Gene in unmittelbarer Nähe der Wurzel des Stammbaums der Metazoen (vielzellige Tiere) vermutet. Noch vor der Aufspaltung der Metazoen sollen sich diese Homeobox-Gene infolge lokaler Duplikationen bei den Nachkommen dieses gemeinsamen Vorfahren vermehrt und einen ersten Komplex gebildet haben (sogenannter Proto-Hox-Komplex). Unterschiedliche Anschauungen existieren darüber, wie viele Gene dabei primär involviert waren. Nach Brooke (1998) bestand der Proto-Hox-Komplex aus vier, nach Garcia-Fernández (2005) aus zwei Homeobox-Genen. Schon bei diesem Proto-Hox-Komplex soll die räumliche und zeitliche Korrelation der Expression entlang der Körperlängsachse in einer einfachen Form bestanden haben, da diese Eigenschaften bei den heutigen Individuen beider Unterabteilungen der Metazoen auftritt (Protostomier und Deuterostomier). Eine zweifache, parallele Entstehung des Proto-Hox-Komplexes in den beiden Unterabteilungen der Metazoa gilt als sehr unwahrscheinlich. In weiteren Schritten von Duplikationen (4-Gen-Modell) bzw. durch Tandem-Duplikationen (2-Gen-Modell) entstanden aus dem Proto-Hox-Komplex ein Ur-Hox-Komplex aus vier Genen und ein Ur-Para-Hox-Komplex aus vier bzw. drei Genen (Abb. 9). Die Diskussion zur kambrischen Explosion (vgl. VI.14.2 im Lehrbuch) wird durch dieses Szenario um eine weitere Facette komplizierter (Brooke et al. 1998). Nicht nur die unterschiedlichen Baupläne, sondern auch die zugrundeliegenden genetischen Regulationskaskaden ihrer Ontogenese unter Mitbeteiligung verschiedener Hox-Komplexe müssen bereits zum Zeitpunkt des ersten fossilen Auftretens aller Tierstämme vorhanden gewesen sein. Die Evolution startet bereits bei einem hochkomplexen Individuum, dessen morphologische und genetische Herkunft rätselhaft bleiben. 2. Welche Mechanismen führten dazu, dass sich der „primitive“ Proto-Hox-Komplex in den einzelnen Tierstämmen zu den Hox- und Para-Hox-Komplexen entwickelte? Die Hox- und Para-Hox-Komplexe müssen mehrfach dupliziert oder sekundär aufsplittert worden sein, ohne dass wesentliche Änderungen der Abfolge der Gene auf den Chromosomen und ihrer Sequenzen auftraten. Während der Großteil des Genoms während der Evolution einem ständigen Wandel ausgesetzt war, blieben die wesentlichen Sequenzabschnitte der Homeobox-Gene innerhalb des Para-Hox- und Hox-Komplexe (auch nach deren sekundären Auflösung in einzelnen Tiergruppen) konstant. Als wichtigen Faktor für diese Stabilität vermutete man, dass Entwicklungszwänge (vgl. Abb. 2) zu einer zeitlichen Hierarchie während ontogenetischer Entwicklungsabläufe auch funktionell verantwortlich für die Konstanz der Reihenfolge von Genen in den Hox-Komplexen waren (Patel 2004). Chromosomale Duplikationen mit ungleichem Crossover und anschließender Divergenz der Gene vor allem in den Randbereichen der Komplexe, Tandemduplikationen von Genen, partielle Rekombination mit anderen DNA-Abschnitten und Genverluste führten im weiteren zu der vorhanden Vielfalt hinsichtlich der Anzahl von Komplexen und ihrer jeweiligen internen genetischen Konfiguration. Diese hypothetischen Prozesse werden unter „evolutionary tinkering“ (evolutionäres Basteln) zusammengefasst (vgl. III.6.3.8 im Lehrbuch). Bei den unmittelbaren Vorläufern der Bilateria, so die Vermutungen, wurden aus den o.g. Ur-Komplexen ein Hox-Komplex aus sieben Genen, gruppiert zu fünf vorderen Genen, einem zentralen und einem hinteren Gen (Finnerty et al. 2003) sowie ein Para-Hox-Komplex mit verbliebenen 3 Genen. Die Tragweite, Mechanismen und die Hintergründe des weiteren „tinkering“, also der diskreten ontogenetischen Änderungen während des phylogenetischen Wandels gilt als ein schwieriges Rätsel. Ungeklärt ist, wie der der vermutete anzestrale Hox-Komplex in unterschiedlicher Ausprägung innerhalb der einzelnen Abstammungslinien ein sekundäres Aufbrechen (Splitting) und Genverluste erfuhr. Das musste z. B. bei zahlreichen Vertretern der Protostomata (Insekten: Drosophila, Nematoden: Caenorhabditis, Kopffüßer: Euprymna) erfolgt sein, bei denen auch Abweichungen von der Kolinearitätsregel (in Raum und Zeit) auftreten. Verwirrend für eine phylogenetische Rekonstruktion stellt sich die Situation auch bei den Deuterostomata dar. Eine deutliche Zunahme an Hox-Genen kennzeichnet den Stamm der Chordata. Bei den Hemichordata (z.B. beim Eichelwurm Saccoglosus) weisen die nicht in Komplexen organisierten Homeobox-Gene eine räumliche Kolinearität auf (Lowe). Bei den Tunikaten (Urochordata) konnte man Formen mit und ohne Komplexbildung (z.B. bei Oikopleura, Seo 2004) nachweisen. Die absolute Zahl ihrer Homeobox-Gene bei den einzelnen Gruppen blieb trotz unterschiedlicher Gentypen (d.h. das Verhältnis von vorderen, mittleren und dorsalen Gengruppen) überraschend gleich. Auffällig dabei ist weiterhin die Reduktion (bis zum völligen Fehlen) der zentralen Gensequenzen im Vergleich zur Situation bei den (von ihnen abgeleiteten) Wirbeltieren. Das Lanzettfischchen (Amphioxus) als Vertreter der Cephalochordata besitzt nur einen Hox-Komplex. Typisch für die Wirbeltiere ist die Vermehrung ganzer Hox-Komplexe sowie der dorsal gelegenen paralogen Gengruppen. Andere paraloge Gensequenzen sind jedoch sekundär in einzelnen Hox-Komplexen verloren gegangen.
Neben dem o.g. „evolutionary tinkering“ werden als Motoren der vermuteten Änderungen von Gensequenzen und der Hox-Komplexe bei den Tunicaten von Sao (2004) deren Größenreduktion und ein Umschwenken auf eine deterministische Form der Entwicklung (wie beim Fadenwurm Caenorhabditis elegans) vermutet. Für die Auflösung der Hox-Komplexe und der zeitlichen Kolinearität bei den Protostomata wird dagegen die schnell verlaufende frühe Ontogenese dieser Organismen in Betracht gezogen (Patel 2004). 3. Wie erfolgte der phylogenetische Wandel der vor- und nachgeschalteten genetischen Regulationskaskaden und der Strukturgene sowie der jeweiligen Ontogenesen parallel zur o.g. Evolution der Homeobox-Gene? Das evolutionäre Basteln mit Entwicklungsgenen stellt alles andere als einfachen Weg für die Evolution dar. Neben dem rätselhaften Entstehen der Homeobox-Gene bzw. der Hox-Komplexe und ihrer Diversifikation muss die Phylogenese der vor- und nachgeschalteten genetischen Ebenen sowie die der durch sie beeinflussten phänotypischen Merkmale plausibel gemacht werden. Für den Organismus sollte jeder einzelne phylogenetische Teilschritt ein auf allen Ebenen seiner Existenz mit dem Leben vereinbares Resultat liefern. Die Zusammenhänge der Evolution der Augen liefert dafür ein anschauliches Beispiel. Ernst Mayr ging davon aus, dass das Auge ca. 40 mal unabhängig voneinander entstanden sei. Die Entdeckung des für die Augenentwicklung bei Drosophila wichtigen pax-6-Gens und seiner homologen Entsprechungen bei der Maus, den Ascidien (Seescheide), den Schnurwürmern oder den Plattwürmern, führten zu der Annahme, dass nur ein Prototyp des Auges primär entstand (Gehring 2001). Danach erfolgte erst die divergente, parallele und konvergente Evolution zu den 40 unterschiedlichen Augentypen des Tierreiches. Allein bei Drosophila werden durch das pax-6-Gen mindestens 2000 nachgeschaltete Gene für die Augenentwicklung beeinflusst. Für deren Entstehung und regulative Integration in die ontogenetischen Abläufe mangelt es an einer wissenschaftlich befriedigenden Erklärung nach wie vor (vgl. Artikel vgl. III.6.3.8 im Lehrbuch). Das auf experimentellen Erkenntnissen und biologischen bzw. medizinischen Erfahrungen basierende Wissen über Mutationen der Homeobox-Gene steht den angenommenen Wirkungen des „gene tinkering" auch entgegen. So produziert zum Beispiel eine homeotische Mutation im Antennapedia-Genkomplex bei Drosophila eine Fliege mit Beinen, die aus dem Kopf wachsen. Das mag einerseits faszinierend sein, aber aus dem Blickwinkel des Organismus ist diese homeotische Mutation nicht hilfreich. Ähnlich zu bewerten ist die ektope und heterotope Induktion der Augenentwicklung bei Drosophila (durch eyeless-Induktion; d. h. die Augen sind an falschen Körperstellen). Erzeugt wird immer ein für Drosophila typisches Augenanalogon (auch bei Nutzung der homologen pax-6-Gene anderer Tiere), welches dem Insekt aber am Bein oder am Rücken nicht von Nutzen ist. Die Induktion der Anlage eines zusätzlichen Halswirbelkörpers bei der Maus (Gewinnmutation) durch veränderte Expression des Hox a-7-Gens wird begleitet durch Missbildungen des Gesichtes und des Schädels. Die Tiere sterben unmittelbar nach der Geburt. Eine experimentell induzierte Verlustmutation (Inaktivierung des Hox a-3-Gens) führte zu einem gegenläufigen morphologischen Bild. Der 1. Halswirbelkörper (Atlas) verschmolz partiell mit der Schadelbasis (Os occipitale), was zu deutlichen Funktionseinschränkungen der Beweglichkeit des Kopfes führt. Diese Befunde lassen sich beliebig fortsetzen. Viele bislang ungeklärte Missbildungsphänomene z.B. der Wirbelsäule (vermehrte Anlage von Steißbeinwirbeln beim Menschen), des Körperstammes (Anlage von mehr als zwei Brustwarzen beim Menschen) oder der Extremitäten (Contergan-Missbildungen, Poly- und Syndaktylie) werden als Folge homeotischer Mutationen verständlich. Diese Missbildungen zeigen weiter, dass auch die Homeobox-Gene pleiotrope Wirkungen haben (ein Gen beeinflusst mehrere Merkmale) und dem evolutionären Wandel daher um so mehr im Wege stehen. Für Richardson und Brakefield (2003) zeigen die vorliegenden Forschungsergebnisse bislang „nur“, wie man technisch Änderungen morphologischer Merkmale durch Beeinflussung der Homeobox-Gene in bekannten Organismen erzwingen kann. Diese Möglichkeiten sagen aber noch nichts darüber aus, ob, wie und warum gerade die genannten evolutionären Entwicklungen in einer natürlichen Umwelt stattgefunden haben. Forschungsschwerpunkt einer evolutionären Entwicklungsbiologie sollte deshalb, so die Autoren, die Betrachtung und Bewertung biologischer Systeme sein, in denen man gleichzeitig die Ursachen und die Wirkungen eines evolutionären Wandels analysieren kann.
Die vorgestellten aktuellen Ansätze und Ergebnisse der vergleichenden und experimentellen Embryologie haben die Embryologie unter dem Stichwort „Evo-Devo“ wieder in eine zentrale Position innerhalb der Evolutionsforschung gestellt. Die Übertragung von vergleichenden Konzepten der Entwicklungsbiologie in den Bereich der Evolutionsbiologie wird als erfolgversprechend angesehen (z. B. zur Überwindung des klassischen Homologieproblems; vgl. V.10.1 im Lehrbuch). Umgekehrt kann nach Ansicht von Minelli (2003) von einer Befruchtung der Entwicklungsbiologie durch die Evolutionsbiologie bislang nicht gesprochen werden. Die Integration der vergleichenden phylogenetischen Methoden zur Klärung einzelner Aspekte der Ontogenese blieb auf allen Ebenen ohne Erfolg. Die Embryonen aller Organismen, bei denen Homeobox-Gene oder Hox-Komplexe nachgewiesen wurden, zeigen eine unerwartete Vielfalt z.T. voneinander unabhängiger Strategien, um die beschriebene räumliche und zeitliche Kolinearität ihrer Expression während der Ontogenese umzusetzen. Die kausale Durchdringung der Dimension des phylogenetischen Wandels von Ontogenesen wird um ein vielfaches komplexer und ist mit den vorgeschlagenen Mechanismen der synthetischen Evolutionstheorie allein nicht mehr abzubilden. Dem vermuteten makroevolutionären Wandel stehen zahlreiche Entwicklungszwänge entgegen (constraints). Diesen kommt durch die erkannten Wirkprinzipien der Homeobox-Gene ein noch viel stärkeres Gewicht zu als bislang vermutet. Mikroevolutive Änderungen auf der Ebene des Grundtyps mit relativ rascher Diversifikation werden demgegenüber einsichtiger. Veränderungen von Entwicklungsgenen (vor allem im Sinne von Verlustmutationen = knock-out Mutationen), die das Leben des Organismus und dessen Vitalität nicht zerstören, können Abwandlungen von Einzelmerkmalen innerhalb weniger Generationen hervorrufen. So konnte zum Beispiel der Verlust von Haaren oder die Änderung der Pigmentierung im Abdominalsegemnt bei einzelnen Drosophila-Subspezies durch natürlich aufgetretene parallele bzw. konvergente Inaktivierung einzelner Entwicklungsgene der ursprünglichen Wildform (svb; bab2) erklärt werden (Sucena 2003, Gombell & Carroll 2003). Damit ließ sich innerhalb eines Grundtyps zeigen, dass im klassischen System als konvergent charakterisierte Merkmale zwar nicht durch direkte Vererbung, aber durch gleichsinnige Änderungen ontogenetischer Kontrollgene entstehen können. Anmerkung (1) „It might appear a bit pretentious to try to extract the fourth dimension out of our DNA when we still lack complete understanding of the other three dimensions. But this is the privilege and the difficulty of working with embryos: The spatial construction can be understood only in the light of time. Similarly, evolutionary genomics will likely teach us what happened during phylogenetic times, and our ontogenic clocks may be revealed by global comparative analyses.“
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Studiengemeinschaft WORT und WISSEN e.V.
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