![]() |
![]() |
![]() |
Im evolutionstheoretischen Rahmen werden für Leitfossil-Zonen gewöhnlich Zeiträume von mehreren 100 000 Jahren bis einige Millionen Jahre veranschlagt. Entsprechend wurde in der Vergangenheit häufig ein Zeitraum in derselben Größenordnung zur Etablierung neuer Arten veranschlagt. Eine wachsende Anzahl von Befunden weist jedoch darauf hin, dass mikroevolutive Fossilabwandlungen, wie sie bei Leitfossilien genutzt werden, binnen relativ weniger Generationen möglich sein könnten. Langzeit-Feldstudien natürlicher Populationen sowie Beobachtungen von Populationen unter wechselnden Umweltbedingungen zeigen, dass ökologisch bedeutsame evolutionäre Veränderungen rasch auftreten können. Man spricht von „Evolution in ökologischen Zeitskalen“. „Ökologische Zeit“ meint dabei einen Zeitrahmen der Größenordnung von größenordnungsmäßig 100 Jahren, in dem sich beobachtbare Prozesse in Ökosystemen abspielen. „Evolutionäre Zeit“ bezieht sich auf länger zurückliegende, nur indirekt (z.B. anhand von Fossilien) erschließbare Prozesse, die Zeitskalen sehr viel höherer Größenordnungen überspannen und üblicherweise in Jahrmillionen angegeben werden. Schon länger häufen sich die Befunde darüber, dass sich die Zeitskalen dieser Prozesse für viele Fragestellungen überlappen (Thompson 1998; Fehrer 1999). Beispiele sind Untersuchungen über die Paradebeispiele gängiger Lehrbücher, die Darwinfinken (Grant & Grant 1995) und der Birkenspanner (Clarke et al. 1990). Zahlreiche Untersuchungen schneller Veränderungen gibt es bei Anolis-Leguane (Losos et al. 1997; Kolbe et al. 2012, vgl. Brüggemann 1998) und Guppys (Reznick et al. (1997). Hinzu kommen künstliche Selektionsexperimente, die zeigen, wie schnell die Raten für evolutionäre Veränderungen sein können. Herrel et al. (2008, 4792) weisen darauf hin, dass schnelle mikroevolutiven Prozesse gut bekannt sind und keine große Besonderheit darstellen: „Schnelle adaptive Veränderungen in der Morphologie sind in ökologischen Zeitskalen in natürlichen Populationen heute gut dokumentiert. ... Überblicksartikel aus jüngerer Zeit haben herausgestellt, dass schnelle adaptive Evolution ein gängiges Phänomen darstellt, und eher als Regel denn als Ausnahme betrachtet werden könnte ... . Experimentelle Einführung von Populationen in neue Umgebungen haben einige der stärksten Belege für natürliche Selektion und Verschiedenwerden durch Anpassung in ökologischen Zeitskalen geliefert.“ Bereits im Jahr 2001 gaben Reznick & Ghalambor einen Überblick über 47 Studien, die eine schnelle („rapid“) Evolution dokumentierten, als Folge anthropogener oder natürlicher Veränderungen. Sie weisen dabei auch auf die Diskrepanz zwischen heute beobachteten Evolutionsraten und den Raten hin, die sich aus dem Fossilbericht ergeben. Die Unterschiede bewegen in vier bis sieben Größenordnungen1 und betreffen Morphologie, Physiologie, Ontogenese und Verhalten; z. B. Körpergröße, Art der Ernährung, Schutzeinrichtungen gegen Räuber, Salztoleranz, Schwermetalltoleranz oder Insektizidresistenz. In den meisten Fällen ging den Änderungen eine Neubesiedlung voraus. Die Autoren ziehen den Schluss: „Wenn wir die Daten für bare Münze nehmen, dann sprechen sie für hohe Raten adaptiver Evolution; das heißt: Raten, die innerhalb der Lebenszeit eines Forschers beobachtbar sind und die um Größenordnungen höher sind als Daten, die aus dem Fossilbericht geschlossen werden können, könnten generell in den Möglichkeiten eines Organismus liegen und für eine ganze Anzahl von Merkmalen gelten“ (Reznick & Ghalambor 2001, 191).2 Schulte et al. (2010) modellierten experimentell eine Coevolution zwischen dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans und dem Parasiten Bacillus thuringiensis. Nach 48 Generationen des Wirtes unter kontrollierten Laborbedingungen kam es dabei zu vielfachen Änderungen bei Wirt und Parasit. Reznick et al. (2010) zeigten, dass bei Guppys der Wegfall eines Fressfeindes bzw. des Risikos, mit diesem in Berührung zu kommen, rasche Evolution zur Folge hatte; manche Merkmale veränderten sich sehr schnell („very rapidly“) in nur vier Generationen. Männchen waren heller gefärbt; das Fluchtverhalten veränderte sich, das Verteidigungsverhalten ging teilweise verloren. Stockwell et al. (2003, 93f.) sprechen von „contemporary evolution“ und meinen damit evolutionäre Änderungen, die in weniger als einigen hundert Jahren beobachtbar waren. Dafür gebe es zahlreiche Beispiele in der Literatur und in manchen Fällen habe sich in diesem kurzen Zeitraum eine teilweise reproduktive Isolation entwickelt. Auch Carroll et al. (2007) stellen fest, dass ökologisch signifikante evolutionäre Änderungen in wenigen Dekaden oder noch kürzerer Zeit vielfach in der Natur nachgewiesen sind. Sie diskutieren mehrere Ursachen: Plastizität, maternale Effekte (epigenetische Einflüsse von mütterlicher Seite), sexuelle Selektion und Genfluss. Plastizität, das ist die Fähigkeit, auf verschiedene Umweltreize mit verschiedenen Merkmalsausprägungen zu reagieren, ist in den letzten Jahren stark in den Fokus evolutionsbiologischer Forschung geraten; vgl. dazu Junker 2010 und www.eklb.info/Plast). Schnelle Mikroevolution solle nicht als etwas Ungewöhnliches angesehen werden, sondern sei vielleicht typisch in sich ändernden Umwelten. Auf lange Sicht würden die Änderungen in ihren Richtungen aber fluktuieren, so dass schnelle kurzzeitige Änderungen nicht in langzeitliche Trends mündeten. Daher bleibe die Frage: „Wenn heute ablaufenden Evolution oft reversibel ist und selten zu einer Akkumulation von langzeitlichen Änderungen führt, wie entstehen dann die größeren Änderungen in den Taxa letztendlich?“ (Carroll et al. 2007, 389).3 Schnelle Anpassung wurden auch bei Königslachsen (Oncorhynchus tshawytscha) beobachtet, die einige Flüsse Nordamerikas neu bevölkerten. Aus Zuchtprogrammen stammende Fische verwilderten, breiteten sich aus und spalteten sich in mehrere genetisch unterscheidbare Stämme auf. Nach maximal zehn Generationen zeigten die untersuchten DNA-Sequenzen von Mikrosatelliten verschiedener Lachsgruppen sechs verschiedene Muster. Bei einer solch rasanten Entwicklung könnten aus den neuen Lachsstämmen auch in kurzer Zeit neue Lachs-Arten entstehen (Suk et al. 2011). Bei in Gefangenschaft gehaltenen Lachsen werden nach wenigen Generationen die Eier deutlich kleiner zugunsten einer größeren Anzahl der Eier (Heath et al. 2003). Ein letztes Beispiel: Rapp & Wendel (2005) konnten zeigen, dass nach nur sechs Generationen divergenter Selektion auf Blühzeiten bei der allopolyploiden Kohl-Art Brassica rapa (entstanden aus den diploiden Arten Brassica napus und Brassica oleracea) der durchschnittliche Blühzeitpunkt in den Extremen um 12,5 Tage auseinander lag, obwohl alle Linien von denselben homozygoten Eltern gezogen worden waren. Reinhard Junker
1 „We also address the large discrepancy between the rate of evolution observed in contemporary studies and the apparent rate of evolution seen in the fossil record“ (183). „Recent reviews suggest that natural populations are capable of sustained rates of evolution many orders of magnitude higher than those observed in the fossil record (Reznick et al., 1997; Thompson, 1998; Hendry & Kinnison, 1999)“ (184). Rate estimates from contemporary studies range from four to seven orders of magnitude higher than those seen in the fossil record (Gingerich, 1983; Reznick et al., 1997)“ (193). 2 „If we take these data at face value, then they argue that high rates of adaptive evolution, meaning rates that may be observable within the lifetime of an investigator and that are orders of magnitude faster than inferences based on the fossil record, may be a general capacity of a diversity of organisms and for a diversity of traits.“ 3 „If contemporary evolution is often reversible and rarely accumulates into long-term changes, how do larger changes in taxa ultimately arise.“
| ||||||
![]() |
Studiengemeinschaft WORT und WISSEN e.V.
|
![]() |